Ungarn: Premierminister Viktor Orban:Phantomschmerz

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Eine unbewältigte Vergangenheit, aggressives Selbstmitleid und die Jagd nach Sündenböcken: Warum Viktor Orbans Wahlsieg und der Rechtsruck in Ungarn so gefährlich für Europa sind.

Richard Swartz

Der Mann erinnert an Pyrrhus. Was kann Viktor Orbán schließlich mit einem solchen Sieg anfangen? Die Sozialisten sind zerschlagen, die Liberalen fast ausgelöscht. Die freien Demokraten, Orbáns eigene Partei, können Ungarn allein regieren und mit ihrer überwältigenden Mehrheit sogar das Grundgesetz verändern. Es scheint, als habe Orbán recht, wenn er von einer 'neuen Epoche' in der Geschichte des Landes spricht.

Mit nationalistischen Tönen hat der Populist Viktor Orban bei der ungarischen Parlamentswahl einen Erdrutschsieg eingefahren. (Foto: Foto: Reuters)

Doch zugleich ist Ungarn ein kleines Land, eingebunden in ein weitaus größeres Europa. Dieses Europa - sprich: die europäische Union - erwartet, dass Orbán das Spar- und Stabilitätsprogramm fortsetzt, das der parteilose Gordon Bajnais vor einem Jahr begann, ein Programm, das vom IWF, der Weltbank und eben der EU vorgegeben wurde. Andere wirtschaftliche Möglichkeiten gibt es nicht. Orbàns Wahlversprechen würden, verwandelte man sie in Politik, Ungarn schnell in einen steuerlosen Kahn verwandeln. Die erfolgreichen Bemühungen von Bajnais und der internationalen Gemeinschaft wären vergeblich gewesen, Ungarn befände sich bald wieder auf dem Weg zum Staatsbankrott.

Viktor Orbàn scheint daher keine andere Möglichkeit zu haben als weiterzumachen wie bisher. Oder soll er den patriotischen und nationalistischen Stimmungen im Land entgegenkommen? Er hat sich ihrer bedient und so seinen Anteil daran erworben, dass Jobbik, die rechtsextremistische Partei mit ihrem paramilitärischen Zweig, zur drittgrößten Fraktion im Parlament wurde. Aber Ungarns Nachbarstaaten, in denen große ungarische Minderheiten leben, fürchten schon eine Entwicklung, in der sie an ein damals deutlich größeres Ungarn erinnert werden. Gleichzeitig weiß man in Brüssel, dass die in der Diaspora lebenden Ungarn Europas größte Minderheit darstellen, oft unzufrieden sind und nostalgisch nach Budapest blicken.

Mitteleuropas talentiertester Populist

Sicherlich ist die Lage anders, als sie in den neunziger Jahren auf dem Balkan war. Doch will Europa keine neuen Konflikte haben, in denen es um Nationen, Nationalismen, ethnische Minderheiten und Grenzen geht. Wenn es in Orbàns Partei heißt, man sehe in einem souveränen Kosovo ein Modell, um die Probleme solcher Minderheiten zu lösen, wird es vielen europäischen Politikern und Funktionären unbehaglich. Auch an diesem Punkt wird Budapest also unter strenger Aufsicht stehen, und die ungarische Regierung wird wenig Spielraum genießen.

Orbáns Triumph gleicht daher einem Pyrrhus-Sieg. Anstatt an die Verwirklichung seiner Wahlversprechen zu gehen und die Zielsetzungen des Landes radikal zu verändern, wird sein größtes Problem darin bestehen, den Erwartungen zu entgehen, die nun an den talentiertesten Populisten Mitteleuropas gerichtet werden.

Albanische Frage, ungarische Frage

Die Ungarn sind von Grund auf unzufrieden. Die Gründe für diese Unzufriedenheit ähneln sich in allen Ländern, die sich im Übergang von kommunistischer Diktatur und Planwirtschaft zur parlamentarischen Demokratie und zur Marktwirtschaft befinden. Doch nirgendwo anders als in Ungarn nahmen die Unzufriedenheit und die mit dieser Wandlung verbundenen Ängsten ein so verführerische Gestalt an.

Denn im Südosten Europas gibt es vor allem zwei historische Probleme, die immer noch nicht gelöst sind: die albanische und die ungarische Frage. Die Albaner werden bald, nach den Rumänen, das größte Volk in diesem Teil Europas sein - eine buchstäblich junge Nation, auf mehrere Staaten verteilt, deren Erfahrungen mit einem eigenen Nationalstaat noch relativ neu sind.

Der Konflikt zwischen Albanern und Serben stand am Anfang des Zerfalls Jugoslawiens, als jene für ihren nationalen Ehrgeiz eine Form suchten, die es noch nicht gab - während letztere an einer Form festhielten, die es zwar gab, die aber ihre Zeit überschritten hatte. Wird die albanische Nation in Zukunft auf einem eigenen Nationalstaat bestehen? Immer wieder heißt es, dass die Albaner, in ihrer Bindung an einzelne Klans, keine solchen Absichten hegen. Ob das so ist, wird sich erst zeigen. Keiner weiß, was werden soll; vermutlich nicht einmal die Albaner selbst.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, was Ungarns neue Rechtsradikale von ihren Vorgängern unterscheidet.

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Während es in der albanischen Frage also um die Zukunft geht, geht die ungarische auf einen Schrecken aus der Vergangenheit zurück: auf den Frieden von Trianon im Jahr 1920, als Ungarn nach dem Untergang des Habsburger Reiches drei Viertel seines Territoriums und zwei Drittel seiner Bevölkerung verlor. Ein Drittel aller ethnischen Ungarn fanden sich damals außerhalb der Staatsgrenzen wieder.

Die neue radikale Rechte: Ein Mitglied der Ungarischen Garde am 11. April, dem Abend der ungarischen Parlamentswahl. (Foto: Foto: AP)

Vermutlich war Trianon eine größere Katastrophe für die Ungarn als Versailles für die Deutschen; doch Trianon und Ungarn gewannen nie die selbe Bedeutung. Hitlers 'Revision' des Friedensvertrages von Versailles ist eng mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden. Die deutsche Nation arbeitete aber die eigene Vergangenheit auf, stellte sich den Fragen nach Schuld und Verantwortung und ersetzte Mythen durch Geschichtsschreibung. Nicht etwa weil die Deutschen besser oder vernünftiger waren als andere Europäer, sondern weil sie dazu gezwungen wurden, zu ihrem eigenen Besten. Die anderen Europäer konnten, als Opfer der Geschichte, als Unbeteiligte oder als Sieger jeweils an der Geschichte feilen. Jeder veränderte sie so, wie es ihm passte. Das gilt besonders für Mitteleuropa; es reicht aus, nach Österreich zu schauen, um Debatten zu finden, die in Deutschland unmöglich wären.

In Staaten wie Rumänien oder Ungarn ist es noch schlimmer. Hier gibt es kaum eine offenen Konfrontation mit der eigenen Geschichte - deswegen kann Trianon bis heute Phantomschmerzen verursachen. Der chronische Mangel an kritischem Geschichtsbewusstsein schafft sich seine eigene politische Öffentlichkeit, beherrscht von fanatischem Wunschdenken, aggressivem Selbstmitleid und der Jagd nach Sündenböcken. Ähnliches gibt es gewiss fast überall in Mitteleuropa und auf dem Balkan. In Westeuropa scheint man diese Bestrebungen nicht zu bemerken - bis es zu spät ist.

Ein Problem für Europa

Mit Orbáns Sieg scheint Ungarn zu seiner unbewältigten Vergangenheit zurückzukehren. Das politische Spektrum wird nun ganz von einer Rechten beherrscht, mit einer noch radikaleren Rechten an ihrer Seite. Doch ist diese neue extreme Rechte von einer anderen Art als frühere extremistischen Gruppen: Der Ton wird nicht mehr von bizarren Dichtern, obskuren Fanatikern und den ewig Gestrigen angegeben. Jobbik verfügt über eine kleine, gut ausgebildete Elite, Studenten, Intellektuelle, die in der modernen Welt zu Hause sind. Ein solcher Gegner ist schwieriger zu beherrschen als seine Vorläufer.

Wie wird Viktor Orbán mit dieser extremen Rechten umgehen? Auch auf diese Frage erwartet die Europäische Union eine Antwort. Denn in einem neuen Europa hat diese Verbindung einer Politik der Unzufriedenheit mit nationalem Chauvinismus keinen Platz. Vielleicht lässt sich sagen, dass sie im Europa von heute nicht einmal das Potenzial hat, zu einem Problem für die ganze Gemeinschaft zu werden. Sicher ist das aber nicht. Würde sich die gegenwärtige Krise verschärfen, gingen wohl auch in anderen Übergangsstaaten im Osten die Populisten und Extremisten gestärkt daraus hervor.

Es könnte daher sein, dass Ungarns Problem bald viel mehr Menschen angeht als nur die Ungarn. Zu einem europäischen Problem ersten Ranges würde es wohl erst kommen können in Verbindung mit einer deutlich geschwächten, deutlich zersplitterten Europäischen Union. Aber auch die lässt sich leider nicht ausschließen.

© SZ vom 30.04.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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