Syrische Flüchtlinge in der Türkei:Zwischen den Fronten

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Es sind dramatische Szenen, die sich an der türkisch-syrischen Grenze bei Mürşitpınar abspielen: Hier treffen kurdische Aktivisten auf türkische Sicherheitskräfte. (Foto: REUTERS)

Die Lage der Flüchtlinge im türkischen Grenzgebiet ist so verzweifelt, dass die ersten ins umkämpfte Syrien zurückkehren. Welche Rolle spielen die Regierung in Ankara und die USA? Darüber kursieren abenteuerliche Gerüchte.

Von Christiane Schlötzer, Mürşitpınar

Der Regen, der Schlamm, die Ungewissheit. Narin Mohammad hält das nicht mehr aus. "Es ist besser, zu Hause zu sterben", sagt die Kurdin, eine schlanke junge Frau mit drei kleinen Kindern am Rockzipfel und ein paar Decken als Gepäck. Sie wartet am stark gesicherten türkisch-syrischen Grenzübergang von Mürşitpınar darauf, dass sich der Zaun öffnet. Die ersten Häuser von Ain al-Arab, das die Kurden Kobane nennen, liegen nur 200 Meter hinter dem Stacheldraht. Von dort war die Kurdin drei Tage zuvor geflohen - in Panik vor den Extremisten des "Islamischen Staats" (IS). Nun will sie zurück: "Ich habe keine Angst, es gibt nichts weiter als den Tod."

Auf einmal zieht ein türkischer Soldat ein Gitter zur Seite. Die Mutter packt ihr Bündel und drängt mit ein paar Hundert Menschen durch das Loch. "Yavaş", langsam, sagt ein Soldat, fast höflich. Minuten später ist das Loch so plötzlich, wie es sich geöffnet hat, wieder zu, gesichert durch Wasserwerfer und Polizeikordon.

Türkei
:Die Angst im Gepäck

Mehr als 100 000 syrische Kurden haben im Südosten der Türkei Zuflucht gefunden. Sie erzählen grauenvolle Dinge vom Wüten der Islamisten in ihrer Heimat. Jenseits der Grenze geraten sie nun auch noch in den Machtkampf zwischen Ankara und der PKK.

Von Christiane Schlötzer

Die Kurden haben nur leichte Waffen, der IS schweres Gerät - ein ungleicher Kampf

Noch immer flüchten die Menschen vor dem IS, der 60 Dörfer um Kobane erobert hat, in die Türkei - während viele Vertriebene schon so verzweifelt sind, dass sie lieber wieder in die Stadt inmitten des Kampfgebiets zurückkehren, als länger auszuharren in Parks, Moscheen oder unter Zeltplanen, über denen die sengende Sonne steht. Private wie staatliche Helfer wirken trotz großen Einsatzes überfordert.

Auch Profiteure des Elends tauchen schon auf. Händler haben es auf das Vieh der Syrer abgesehen. "Die geben uns nur den halben Preis", sagt Adnan Hussin, ein 21-Jähriger in zerschlissenen Jeans und mit einem modischen Silberohrring. Er schläft nun mit 100 Menschen unter einem Zeltdach. Das haben Bauern in dem 80-Familien-Dorf Karaca (Kurdisch: Siwede) für die Gestrandeten auf ein abgeerntetes Weizenfeld gestellt. Die Frauen kochen auf offenem Feuer im Freien. Dazwischen sind Kühe und Schafe angepflockt. Die haben die Flüchtlinge durch Löcher im Grenzzaun geschoben oder darüber gehoben.

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(Foto: Murad Sezer/Reuters)

Familien im Elend: 140 000 Menschen sind in der vergangenen Woche ins türkische Grenzgebiet geflüchtet.

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(Foto: Sedat Suna/dpa)

Die syrischen Kurden verlassen ihre Heimat, in Panik. Sie fliehen vor den heranrückenden IS-Kämpfern, die wegen ihrer Brutalität gefürchtet sind.

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(Foto: Sedat Suna/dpa)

Die Nerven liegen blank an der Grenze: Bei Şanliurfa protestieren Kurden gegen den IS. Die türkische Polizei setzt Tränengas ein, um sie zu zerstreuen.

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(Foto: Burhan Ozbilici/AP)

Bei der Stadt Suruç reißen fliehende syrische Kurden den Grenzzaun nieder, unterstützt von Kurden aus der Türkei.

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(Foto: Bulent Kilic/AFP)

Doch viele Vertriebene sind schon so verzweifelt, dass sie lieber zurückkehren wollen. In ihre Heimat, wo ihnen der Tod droht.

Das alte Gleis der Bagdad-Bahn markiert die Grenze

In Siwede, knapp zehn Kilometer von Kobane entfernt, ist der Lärm von Artillerie und Maschinengewehrfeuer zu hören. Von einem Hügel aus sieht man Rauchsäulen über syrischem Gebiet. Dörfler ducken sich unter jungen Olivenbäumen und beobachten die Front. Drüben in Syrien, bei Zorava, liegt ein altes französisches Fort, in dem der syrische Staatssender untergebracht war, davor ein Hügel.

Von hier aus hat die YPG, die kurdische Volksmiliz, tagelang den Vormarsch auf Kobane aufgehalten. Am Freitag soll der IS den Hügel eingenommen haben. Die syrischen Kurden richten daraufhin einen dramatischen Beistandsappell "an die Nato, die EU und alle internationalen Institutionen, ein mögliches Massaker in Kobane zu verhindern". Die Kurden haben nur leichte Waffen, der IS dagegen schweres Gerät. Ein ungleicher Kampf.

Die Grenze bei Zorava kann man so gut sehen, weil das alte Gleis der Bagdad-Bahn sie markiert. Auf dem Gleis steht ein LKW. Den haben türkische Kurden dort quergestellt, um zu verhindern, dass der IS Nachschub erhält - aus der Türkei, wie sie sagen. Die Luft im Grenzgebiet ist nach mehreren Sandstürmen nicht nur voll Staub, sondern auch mit Gerüchten aufgeladen. Ein Mann, der sich in Siwede als Polizeioffizier der kurdischen Kantonsverwaltung von Kobane vorstellt, will "mit eigenen Augen" gesehen haben, wie aus einem Zug "schwere Kisten" entladen wurde. Seinen Namen sagt der Mann nicht.

Bei der türkischen Regierungspartei AKP nennen sie so etwas "Geistergeschichten" und "Schwarze Propaganda". Dafür haben sie ihre eigenen wilden Theorien über die Dschihadisten. Die amerikanische CIA und andere westliche Geheimdienste hätten den IS gefördert. "Wie ist es sonst möglich, dass eine Organisation plötzlich so stark wird", sagt Fethi Akaslan, 35, Vizechef der AKP in Suruç, der kurdischen Kleinstadt in der Provinz Şanliurfa, die nun die Hauptlast der Flüchtlingswelle trägt. "Nur wegen des Öls in der Region wird getötet", sagt ein anderer AKP-Mann. Ein Dritter, der jüngste in einer Männerrunde, die sich im Schatten riesiger Portraits von Recep Tayyip Erdoğan versammelt hat, ist vorsichtiger. Er hat jüngst mit einem Freund telefoniert, der sich dem IS anschließen will. "Ich habe ihm gesagt, mach es nicht!", erzählt der 20-Jährige. Hat es genutzt? "Nein, er hat gesagt, ich bekomme dort Geld und eine Frau."

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Die US-Luftangriffe auf den IS in Syrien finden die AKP-Politiker "auf jeden Fall gut", trotz aller Amerika-Skepsis, die bei türkischen Konservativen tief verwurzelt ist. Dschihadisten so dicht vor der eigenen Haustür machen Angst. Am Freitagmittag hört man das Donnern von Kampfjets über Şanliurfa. Deren Ziel und Absicht bleiben zunächst unklar. Erdoğan hatte zu Wochenbeginn erstmals ein militärisches Engagement im Rahmen der westlich-arabischen Koalition gegen den IS nicht ausgeschlossen. Entscheidungen dazu sollten aber erst in der kommenden Woche fallen, sagte Erdoğan. Die Türkei hatte zuvor von der Allianz gegen den IS Abstand gehalten und dies mit 46 türkischen Geiseln in IS-Hand begründet. Die Entführten sind seit einer Woche frei. Nun zeigt die türkische Armee schon seit ein paar Tagen große Präsenz an der Grenze.

Die Waffen der Kurden werden offenbar gebraucht

Auch etwa 1000 aus Istanbul mit Bussen angereiste kurdische Aktivisten haben sich am Freitag an der Grenze postiert, in einer Menschenkette. Sie wollen Solidarität mit den syrischen Kurden demonstrieren. Die AKP-Politiker in Suruç sind auch Kurden. Bei der Kommunalwahl im März kam die Erdoğan-Partei in der 60 000-Einwohner-Stadt auf 46 Prozent der Stimmen, das Rathaus aber gewann die kurdische BDP - wie viele Rathäuser der Region.

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Von Luisa Seeling

Die BDP agiert als eine Art legaler Arm der Kurden-Guerilla PKK. Die hat dazu aufgerufen, die Kurden in Syrien auch mit Waffen zu schützen. Eigentlich sollte die PKK in Kürze ihre Gewehre abgeben, wie im "Friedensprozess" mit der türkischen Regierung vorgesehen. Interessant ist deshalb auch eine Nachricht aus Ankara: Der Teil des Friedensplans, der die Entwaffnung der PKK betreffe, könne später umgesetzt werden, ließ ein AKP-Abgeordneter wissen. Die Waffen der Kurden werden offenbar derzeit gebraucht.

Mit Asya Abdullah, einer der beiden Vorsitzenden der syrisch-kurdischen PKK- Schwester PYD kann man telefonieren, im türkischen Handy-Netz. Abdullah ist in Kobane und nennt die Lage der Stadt "sehr schwierig". Bislang hätten die Amerikaner den IS bei Kobane nicht direkt getroffen. "Wir wissen, wo die Dschihadisten stehen." Würde die PYD dies auch den USA sagen? "Wir sind für Dialog offen", sagt Abdullah. "Heute ist der IS eine Gefahr für die Kurden, morgen kann er ein anderes Volk treffen, auch in Europa."

© SZ vom 27.09.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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