Nazi-Prozess in Aachen:Das Opfer öffnete die Türe

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"Ich gab den ersten Schuss ab": Der frühere SS-Mann Heinrich Boere gesteht vor Gericht die Erschießung dreier Zivilisten - und schildert, wie das Tötungskommando gegen seine Opfer vorging.

Hans Holzhaider, Aachen

Der ehemalige SS-Mann Heinrich Boere hat vor dem Landgericht Aachen gestanden, 1944 in den Niederlanden drei Männer erschossen zu haben. Der heute 88-jährige Boere war damals Mitglied eines Sonderkommandos der niederländischen SS, das Vergeltungsmaßnahmen für von holländischen Widerstandskämpfern verübte Anschläge ausführte. Er habe die ihm erteilten Aufträge als militärische Befehle angesehen. "Als einfacher Soldat hatte ich gelernt, Befehle auszuführen und ich wusste, dass ich bei Nichtbefolgen eines Befehls meinen Eid brechen und selbst erschossen werden würde", ließ Boere von seinem Verteidiger Gordon Christiansen vortragen. "Ich hatte damals keine Anhaltspunkte dafür, dass die Befehle nicht rechtens sein würden."

Boere hat 1944 nach eigener Aussage zu keinem Zeitpunkt "mit dem Gefühl gehandelt, ein Verbrechen zu begehen". Heute sehe er die Erschießung der drei niederländischen Zivilisten "aus einem anderen Blickwinkel." (Foto: Foto: dpa)

Boere räumte die Taten im Wesentlichen so ein, wie sie ihm in der Anklage zur Last gelegt werden. Er hatte sich nach dem deutschen Einmarsch in den Niederlanden freiwillig zur Waffen-SS gemeldet, wurde zunächst an die Ostfront geschickt und nach einer Ruhrerkrankung zum Ersatzbataillon der Waffen-SS-Division Wiking nach Holland versetzt.

Mitte 1944 sei er zum "Sonderkommando Feldmeijer" eingezogen worden, das nach dem Führer der niederländischen SS Hendrik Feldmeijer benannt war. Man habe ihm und seinen Kameraden Fotos von ermordeten Mitgliedern der holländischen SS und der Nazipartei NSB gezeigt und ihnen erklärt, dass auf Befehl des Sicherheitskommissars Hanns Albin Rauter Gegenmaßnahmen zu ergreifen seien. Sie seien zu strengstem Stillschweigen über ihre Aufträge verpflichtet worden. Feldmeijer habe ihnen gesagt, wer irgendetwas über die Aktionen des Kommandos durchsickern lasse, stehe "mit einem Fuß im Konzentrationslager und mit dem anderen im Grab". Ihm sei klar gewesen, dass er im Falle einer Befehlsverweigerung vor ein Standgericht gestellt würde.

Erster Schuss auf den Apotheker

Bei seinem ersten Auftrag habe er einen Zettel mit zwei Namen und Adressen erhalten. Ihm sei gesagt worden, es handele sich um "leitende Personen der Widerstandbewegung". Vom deutschen Sicherheitsdienst habe er eine Pistole und einen SD-Ausweis mit falschem Namen erhalten. An der ersten Adresse habe er niemanden angetroffen.

Die zweite Adresse war die des Apothekers Fritz Bicknese in Breda. Er habe die Apotheke zusammen mit seinem Kameraden Besteman betreten. Nachdem er sich von der Identität des Apothekers überzeugt habe, "zog ich meine schussbereite Pistole aus meiner Jackentasche und gab den ersten Schuss auf Bicknese ab". Er und Besteman hätten dann noch mehrmals auf den am Boden liegenden Mann geschossen und seien dann sehr schnell aus dem Laden gegangen.

Opfer öffnete die Haustür

Auf ähnliche Weise erschossen Boere und ein zweiter SS-Mann namens Kromhout am 3. September in Voorschoten den Angestellten Teunis de Groot, nachdem dieser ihm selbst die Tür zu seinem Haus geöffnet hatte. Unmittelbar danach fuhr das Tötungskommando zur Wohnung des Prokuristen Frans Kuster. Dort öffnete Kusters Ehefrau die Tür.

"Es war uns verboten, eine derartige Aktion in Gegenwart einer Frau durchzuführen", heißt es in Boeres Erklärung. Deshalb habe man Kuster im Auto mitgenommen. Unterwegs habe der Fahrer eine Panne vorgetäuscht. Kuster habe versucht zu fliehen. "Er war schon einige Meter vom Auto entfernt, als von Kromhout und mir auf ihn geschossen wurde."Zu keinem Zeitpunkt, sagte Boere, habe er 1944 "in dem Bewusstsein oder mit dem Gefühl gehandelt, ein Verbrechen zu begehen". Heute, 65 Jahre später, "sehe ich das natürlich aus einem anderen Blickwinkel."

Älteres Urteil wurde nicht vollstreckt

Einen Antrag der Verteidiger Boeres, das Verfahren gemäß der am 1. Dezember in Kraft getretenen Grundrechte- Charta der EU einzustellen, hatte das Gericht zuvor zurückgewiesen. Der Einstellungsantrag stütze sich auf Artikel 50 der Charta, die eine Strafverfolgung ausschließt, wenn der Beschuldigte für die ihm zur Last gelegten Taten in der Union schon einmal rechtskräftig verurteilt wurde.

Boere war 1949 von einem Sondergericht in Amsterdam zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haft begnadigt worden. Das Landgericht Aachen legte seiner Entscheidung den Artikel 54 des Schengener Abkommens zugrunde, der eine Doppelbestrafung nur dann ausschließt, wenn das früher ergangene Urteil auch vollstreckt wurde. Boere war 1947 aus einem niederländischen Kriegsgefangenenlager entflohen und hatte sich später nach Deutschland abgesetzt. Der Artikel 54 des Schengenabkommens sei nach wie vor gültig und als zulässige Einschränkung des Artikels 50 der Grundrechte-Charta zu werten, entschied das Gericht.

© SZ vom 09.12.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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