Nach Putschversuch:Erdoğan führt die Türkei in die Diktatur

Nach Putschversuch: Alltagsszene in Ankara: Der Ausnahmezustand ist der Versuch, das Illegale zu legalisieren und den Weg der Türkei in die Diktatur juristisch zu pflastern.

Alltagsszene in Ankara: Der Ausnahmezustand ist der Versuch, das Illegale zu legalisieren und den Weg der Türkei in die Diktatur juristisch zu pflastern.

(Foto: AP)

Der Souverän in einer Demokratie ist das Volk. Doch in der Türkei ist der Souverän Recep Tayyip Erdoğan - und die Welt Zeuge einer bedrohlichen Wahrheit.

Kommentar von Heribert Prantl

Rechtsstaat und Demokratie sind Partner. Es ist also nicht so, dass Mehrheits- und Volksentscheidungen alles und jedes rechtfertigen. Demokratie ist mehr als Statistik, mehr als eine Abstimmungsprozedur; sie ist eine Wertegemeinschaft. Die Macht der Mehrheit wird daher von der Macht des Rechts gebremst und kontrolliert. Wenn das nicht mehr funktioniert, wird die Demokratie suspekt - wie in der Türkei. Die Welt ist daher Zeuge einer befremdlich-bedrohlichen Wahrheit: Ein Staat, den man rechtsstaatlich nennen durfte, verwandelt sich in ein autoritäres System.

Der Souverän in einer Demokratie ist das Volk. Der Souverän in der Türkei ist Recep Tayyip Erdoğan. Er lenkt die Medien, er steuert und kujoniert die Justiz, er hat sich von den Bindungen befreit, die ein Rechtsstaat auch dem höchsten Repräsentanten eines Staates auferlegt. Erdoğan beruft sich zu diesem Zwecke auf das Volk, das seine Partei zuletzt mit 49,4 Prozent gewählt hat. Diesen Wahlakt versteht er als Ermächtigung zur Selbstermächtigung: Er ist der Staat; und er handelt so, wie er es für richtig hält und geht mit denen, die seine Feinde sind oder die er dafür hält, so um, wie es ihm beliebt. Das Wort dafür ist Ausnahmezustand.

In der Türkei genügt der Wille des Souveräns

Der nun ausgerufene Ausnahmezustand gibt dem schon bestehenden Zustand den zutreffenden Namen. Der gescheiterte Militärputsch war und ist jetzt Anlass, auf eine Tarnung von Willkür weitgehendst zu verzichten. Die Tarnung besteht jetzt nur noch darin, die Verfassungsverachtung mit einem Begriff aus der Verfassung zu bemänteln: Ausnahmezustand. Selbst wenn es so wäre, dass alle über Nacht entlassenen und verhafteten Richter, Staatsanwälte, Professoren, Lehrer und Beamte am Putsch beteiligt gewesen wären oder mit ihm sympathisiert hätten: Für die Reaktion darauf gibt es in einem Rechtsstaat Verfahren. In der Türkei genügt der Wille des Souveräns.

Der Systemumbruch in der Türkei wird durch Aus- und Abschaltung der unabhängigen Justiz inszeniert. Als das türkische Verfassungsgericht im Februar die Untersuchungshaft gegen zwei Journalisten aufhob, drohte Erdoğan den Richtern: "Ich sage es offen und klar, ich akzeptiere das nicht und füge mich der Entscheidung nicht, ich respektiere sie auch nicht." Er hat dieser Drohung Taten folgen lassen.

Der nun deklarierte Ausnahmezustand ist der Versuch, das Illegale zu legalisieren, den Verfassungsbruch als Verfassungsverteidigung auszugeben und den Weg der Türkei in die Diktatur juristisch zu pflastern. Vor allem aber ist dieser Ausnahmezustand ein Höhepunkt in der Ausschaltung der Justiz. Was Erdoğan mit Repressalien gegen Rechtsanwälte und Strafverteidiger begonnen, dann mit der Entlassung der Richter und Staatsanwälte fortgesetzt hat, das wird mit dem Ausnahmezustand besiegelt - die Beendigung de Gewaltenteilung. Die Türkei ist ein entrechtsstaatlichtes Land.

Erdoğan ist "inappellative Entscheidungsinstanz"

Der Ausnahmezustand ist nun auch offiziell der Zustand, in dem Erdoğan selbst von einem funktionierenden Verfassungsgericht nicht mehr kontrolliert werden könnte. Erdoğan ist "inappellative Entscheidungsinstanz": So hat der berüchtigte Staatsrechtler Carl Schmitt einmal den Souverän beschrieben; Schmitt war der Jurist, der die Weimarer Republik kaputtgeschrieben und die Nazis hochgejubelt hat. Eine unkontrollierbare Entscheidungsinstanz ist unvereinbar mit einem demokratischen Rechtsstaat.

Der Ausnahmezustand in Frankreich hat mit dem in der Türkei nicht sehr viel mehr als den Namen gemein. Frankreich hat den Eingriff in etliche Grundrechte erheblich erleichtert; es hat nicht die Gewaltenteilung beseitigt, nicht die Justiz dezimiert und minimiert. Der Ausnahmezustand dort ist eingebettet in eine funktionierende Rechts- und Werteordnung. Aber der Name gibt Erdoğan die Möglichkeit, auf Kritik mit dem Hinweis auf Frankreich zu reagieren. Und wenn er die Todesstrafe wieder einführen will, kann er sich auf die USA berufen; wenn er für echte und vermeintliche Putschisten und ihre Sympathisanten Lager einrichtet, kann er auf Guantanamo verweisen. Das ist die perverse Leuchtkraft der Menschenrechtsverletzungen durch rechtsstaatliche Demokratien. Sie dienen anderen als Bestätigung des eigenen Tuns.

Die Türkei ist ein wunderbares Land. Es hat einst vielen von den Nazis verfolgten deutschen Professoren eine Heimat gegeben. Einer von ihnen war der große Rechtswissenschaftler Ernst E. Hirsch. Er hat, sehr viel später, der Türkei ein goldenes Kompliment gemacht: "Die Rechtsstaatlichkeit der türkischen Republik kommt vor allem in der Stellung und dem Aufgabenkreis der Richterschaft zum Ausdruck." Es wäre so schön, wenn man das bald wieder sagen könnte.

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