Münchner Neueste Nachrichten vom 29. Juni 1914:Morde in Sarajevo, Kurssturz an der Börse

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Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 29. Juni 1914 (Foto: Oliver Das Gupta)

Nicht einmal 24 Stunden nach der Ermordung von Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand berichtet die Vorläufer-Zeitung der SZ eine Fülle von Details über das Attentat. Ebenfalls enthalten: ein erster Bericht über Wasserski und die Debatte über die Zukunft von Kinos. Was heute vor 100 Jahren in der Zeitung stand.

Von Barbara Galaktionow

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung .

Am Morgen des 29. Juni 1914 gibt es auf der Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten nur ein Thema. "Der Erzherzog-Thronfolger und seine Gemahlin ermordet" prangt es dort in großen Lettern dem Leser entgegen. In der Unterzeile werden die wichtigsten Aspekte im Telegrammstil aufgeführt: "Ein vereiteltes Bombenattentat - Durch Revolverschüsse getötet - Die Attentäter verhaftet".

Die Nachricht von der Ermordung Franz Ferdinands und seiner Frau am Vortag hat schnell ihren Weg in die Münchner Redaktion gefunden. Mittels Telegrammen oder in, wie es heißt, "Privattelefonaten" haben die Korrespondenten aus dem bosnischen Sarajewo, vom Aufenthaltsort des österreichischen Kaiser Franz Joseph I. in Ischl, aus Wien und Berlin ihre Informationen übermittelt.

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Ein chaotischer Strom unterschiedlichster Details zum Ablauf des Anschlags, dem Attentäter und den Reaktionen auf die Bluttat, der sich auch in der etwas konfusen Struktur der Titelseite widerspiegelt.

Die österreichisch-ungarische Monarchie und das Kaiserhaus seien von "einem neuen schweren Schicksalsschlag getroffen worden" heißt es einleitend. Ein knappes Telegramm vom Ort des Geschehens, Sarajewo, bringt die Ereignisse zunächst auf den Punkt: "Ein Gymnasiast gab auf den Erzherzog Franz Ferdinand und dessen Gemahlin zwei Revolverschüsse ab. Beide wurden schwer verletzt und starben alsbald."

Gemäß "beglaubigter amtlicher Mitteilung aus Wien" erfährt der Leser Genaueres über den Hergang der Tat: Wie zunächst der Thronfolger selbst einen ersten Anschlag vereitelte, indem er eine Bombe, die auf sein Auto geschleudert wurde, mit dem Arm zurückstieß. Wie jedoch dann ein "serbischer Gymnasiast der achten Klasse namens Princip aus einer Browningpistole mehrere Schüsse auf das erzherzogliche Automobil" abgab. Und wie der Kaiser in Ischl bereits etwa eine Viertelstunde nach dem Attentat am späten Vormittag darüber informiert wurde.

Der sperrige Thronfolger

Weitere Details werden offenbar in der Folge ihres Eintreffens aufgeführt: Zur Zahl der Schüsse, dem Schützen und dem Bombenwerfer, den Reaktionen in Wien, wo die Menschen "mit leidenschaftlicher Erregung das furchtbare, für die Donaumonarchie so unabsehbar folgenschwere Ereignis besprachen und auch der innigen Teilnahme an dem abermaligen Schicksalsschlage für den greisen Kaiser (...) Ausdruck gaben." In Zeiten von Internet und Mobiltelefon erscheint es erstaunlich, wie schnell auch schon vor 100 Jahren Informationen übermittelt werden konnten.

In einem anschließenden "Charakterbild" wird der ermordete Franz Ferdinand in einer Weise dargestellt, wie sie wohl auch heutige Biographen unterschreiben können: als für Außenstehende etwas sperriger, höfischem Prunk abholder Mensch, der jedoch einen starken Familiensinn habe und mit einem "scharfen, kühlen Verstand, einer starken Energie und einem ausgeprägten Selbstbewusstsein" ausgestattet sei.

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Betont werden außerdem Franz Ferdinands Jagdleidenschaft, sein Interesse für militärische Fragen und seine deutliche Ablehnung von Autonomiebestrebungen einzelner Länder innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie. Seine Freundschaft mit dem deutschen Kaiser Wilhelm und seine Liebesheirat mit Sophie Gräfin Chotek werden in einem biografischen Abriss auf Seite 2 thematisiert.

Schon damals relevant: Die Folgen eines Großereignisses auf die Wirtschaft. Und so berichtet die Handelszeitung im hinteren Teil des Blattes von der "Wirkung des Attentats auf die Wiener Börse". "Direkt panikartik aufgenommen" worden sei es, führende Aktien hätten Kursstürze erlitten.

Auf eher weniger Interesse dürfte angesichts des dramatischen Geschehens in Sarajewo am Morgen des 29. Juni vor 100 Jahren der schleppende Fortgang der Friedensverhandlungen im albanischen Durazzo gestoßen sein. Die stets so betitelten "Albanischen Wirren", am Tag zuvor noch auf Seite 1, finden sich nun auf Seite 2. Der Fortsetzungsroman "Der arme Buchbinder" wandert von der Titelseite nach ferner liefen: Die Leser finden ihn diesmal erst auf Seite 7 - zusammen mit einigen Buchrezensionen, nämlich Schnitzer-Novellen und einem wissenschaftlichen Werk zum Thema "Sexualleben und Nervenleiden".

Kurios und zugleich doch wie ein fernes Echo heutiger Debatten um zunehmende Internetnutzung und Computerspiele wirkt ein Artikel zum damals neuen Phänomen des "Lichtspieltheaters". Der Autor konstatiert, dass das Kino sich durchzusetzen scheine, obwohl doch viele Zeitgenossen diese Entwicklung kritisch sähen. Da man die Sache also nicht ignorieren könne, empfiehlt er die Lektüre eines neuen Buches, das "die Grundvoraussetzungen darstellt und erörtert, die man kennen muß, wenn man zu einem begründeten Urteil über das Kinowesen kommen will".

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Damals noch weitgehend unbekannt war offenbar auch der "neueste Sport Amerikas": das "Wassergleiten". Jedenfalls ist es den Zeitungsmachern in der Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten (offiziell betitelt als Vorabend-Blatt des 30. Juni) einen eigenen Artikel wert. Dem deutschen Leser wird genau beschrieben, wie der Beobachter hinter "pfeilschnellen Booten" mit einigem Abstand "stehend im Badegewand einen jungen Mann oder eine junge Frau in wunderlich gebeugter Haltung" sehe, die über das Wasser dahinglitten. Die Bekanntschaft mit Wasserski muss allerdings bis zur Seite 3 warten.

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Denn auch das Vorabend-Blatt wird natürlich wieder bestimmt durch die Thronfolger-Ermordung.

Der hastig auf die Titelseite zusammengeworfene Informationswust vom Morgen ist nun einer deutlich geordneteren Form gewichen. Und irgendwie erscheint diese Titelseite von vor 100 Jahren erstaunlich modern, wenn man sie mit heutigen Augen betrachtet. Denn die Journalisten beantworten genau die Fragen, die auch bei heutigen Großlagen erst mal relevant sind: Was ist genau geschehen? Was berichten Augenzeugen? Was ist über den Hintergrund der Tat bekannt? Wie sind die Reaktionen? Und - wie geht es weiter?

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Am des 28. Juni 1914 wurde Österreichs Thronfolger in Sarajewo ermordet. In der damaligen Ausgabe der SZ-Vorgängerin "Münchner Neuesten Nachrichten" deutet noch nichts auf Erschütterung des Weltgefüges hin. Trotzdem ist der Erzherzog Thema, ebenso ein heute noch bekannter Schriftsteller - und der Urlaub des Chefredakteurs.

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Von einem "sorgfältig ausgearbeiteten Komplott" gegen den Thronfolger ist nun die Rede - denn sogar an der Eisenbahnstrecke, auf der Franz Ferdinand am Abend hätte fahren sollen, seien weitere Bomben gefunden worden. Es wird berichtet von einer großen Geldsumme, die im möblierten Zimmer des Attentäters Gavrilo Princip gefunden wurde. Davon, dass das Attentat am serbischen Nationalfeiertag stattfand. Und dass sogar in Berlin Kapellen in öffentlichen Lokalen spontan "Gott erhalte Franz, den Kaiser!" - die alte österreichische Hymne - intonierten, als die Nachricht von der Ermordung des Thronfolgers kam.

Dass es doch ganz andere Zeiten waren, damals, vor dem Großen Krieg, wird vor allem in der Schilderung deutlich, wie der österreichische Thronfolger vor seiner Erschießung agierte. "Herr Bürgermeister, wir kommen nach Serajewo (sic!), um einen Besuch zu machen und man wirft auf uns Bomben. Das ist empörend", zitiert das Blatt Franz Ferdinands Reaktion auf das von ihm selbst vereitelte Bombenattentat.

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Der Erzherzog widersetzte sich zudem dem Vorschlag des Polizeichefs von Sarajewo, seine Fahrt abzubrechen oder sie zumindest doch auf einer anderen Route fortzusetzen - "da er es für seine Pflicht hielt, keine Mutlosigkeit an den Tag zu legen", wie die Zeitung schreibt. Hätte Franz Ferdinand damals weniger Haltung bewiesen, hätte der Tag wohl ganz anders verlaufen können - und auch die weitere Geschichte.

Die Tageszeitung Münchner Neueste Nachrichten erschien von 1848 bis 1945 in der bayerischen Landeshauptstadt. Das Blatt war zeitweise die auflagenstärkste tagesaktuelle Publikation in Süddeutschland. Während des Kaiserreiches war die Zeitung liberal ausgerichtet, in der Weimarer Zeit war sie konservativ-monarchistisch, nach der Machtergreifung der Nazis wurde das Blatt gleichgeschaltet. Süddeutsche Zeitung nannten sich die Münchner Neuesten Nachrichten als Untertitel, einen Namen, den die SZ bei ihrer Gründung 1945 annahm. Bis heute trägt der SZ-Regionalteil den Titel Münchner Neueste Nachrichten.

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