Münchner Neueste Nachrichten vom 4.8.1914:Berlin schiebt Russland die Kriegsschuld zu

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Titelseite der Münchner Neuesten Nachrichten vom 4. August 1914 (Morgenblatt). (Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren: Der Weltkrieg beginnt, die deutsche Führung wirft Russland eine Verschwörung vor und das SZ-Vorgängerblatt hetzt bereitwillig mit. Die wichtigste Nachricht des Tages schafft es jedoch nicht mehr in die Zeitung.

Von Oliver Das Gupta

Agenten, Schnüffler, Feinde! Wenige Tage nach Kriegsbeginn grassiert die Furcht vor den Handlangern fremder Mächte in Deutschland. Aus verschiedenen Winkeln des Reichs laufen Meldungen ein über Spione, vereitelte und vollzogene Anschläge - und erschossene Verdächtige. Erst am Vortag war von französischen Flugzeugen und versuchten Grenzübertritten vor der Kriegserklärung berichtet worden ( mehr dazu hier) - alles Falschmeldungen.

Prügel für Ausländer

Doch die Angst vor Agenten wirkt. Die Hysterie wird sich in den folgenden vier Kriegsjahren noch ausweiten und zu bizarren Verdächtigungen führen, auch in der bayerischen Hauptstadt München ( hier mehr dazu).

Die Münchner Neuesten Nachrichten, die im Juli noch vor unbegründeter "Spionageriecherei" gewarnt hatten ( hier mehr dazu), berichtet am 4. August, wie sich die Paranoia auswirkt. "In einer Reihe bayerischer Städte" seien verschiedene, meist ausländische Personen festgenommen worden. "Darunter haben auch Unschuldige zu leiden", stellt das Blatt fest. In Landshut seien ein serbischer Geistlicher und sein Bruder - ein Jurist - verprügelt worden.

In München werden ebenfalls mehrere Ausländer festgenommen, auch hier kommt es zu gewalttätigen Übergriffen. Ein Mann aus Russisch-Polen sei von einer Menschenmenge so übel zugerichtet worden, dass "ihn die Sanitätskolonne zur Polizei bringen musste". Die Behörden ermitteln laufend gegen die Verdächtigen, allerdings ohne Erfolg, wie die SZ-Vorgängerzeitung meldet: "Ein Spion befindet sich unter den Verhafteten nicht".

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Gleichzeitig befeuert das Blatt die Ängste. "Russische, französische und auch serbische Spionage wird in Deutschland in allergrößtem Maßstabe betrieben", behaupten die Münchner Neuesten Nachrichten. Die Behörden forderten von der Bevölkerung erhöhte Wachsamkeit. In München seien zwei verkleidete Ausländer aufgeflogen, die nun in Gewahrsam seien, heißt es.

Gleichzeitig druckt das Blatt Aufrufe von Vaterländischen Vereinen, Verse von patriotischen Dichtern und die Rede von deutschen Fürsten an ihre Untertanen (diesmal vom König von Württemberg).

"Der Krieg nach zwei Fronten" (so der Titel des Aufmachers) hat begonnen, das Deutsche Reich kämpft nun gleichzeitig gegen die Großmächte Russland und Frankreich. Es ist ein von der Reichsführung schon lange gewollter Krieg, wie wir heute wissen ( hier ein Interview dazu).

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Die Propagandamaschinerie läuft längst auch Hochtouren. Die Reichsführung um Wilhelm II. veröffentlicht den Notenwechsel, der Ende Juli zwischen dem Kaiser und Zar Nikolaus II. stattfand, nachdem Österreich-Ungarn Serbien den Krieg erklärt hatte.

Die Dokumente sollen beweisen, dass der deutsche Kaiser bis zum Schluss versuchte, den Frieden zu retten. Abgesehen von einem kurzen Schwanken war das nicht der Fall.

Fakt ist: Am Ende der Julikrise waren auch Russland und Frankreich kriegsbereit. Aber in den Wochen zuvor hatten die Führungen in Wien und Berlin an der Eskalation der Lage gebastelt, die nach dem Mord an Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand ( hier mehr über den Erzherzog) in Sarajevo entstanden war.

Wilhelm II. nickte den Krieg ab, den seine von ihm hochgezüchtete Kamarilla vorbereitet hatte. Die unschöne, aber gründlich dokumentierte Wahrheit durfte die Deutschen erst nach dem Krieg erfahren.

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Zu Kriegsbeginn 1914 aber klappt die Täuschung: Russland wird von den Deutschen als Aggressor wahrgenommen, als diejenige Macht, die Schuld daran trägt, dass der Frieden verloren ist. "Die Verschwörung gegen Deutschland" titeln die Münchner Neuesten Nachrichten die Ausgabe, die am Abend des 4. August erscheint.

Wie schon in den Tagen zuvor wird ordentlich vom Leder gezogen: "Der Russe wirft mit seinem Ehrenwort um sich", heißt es da. Weder dem angeblich friedensgewillten Zaren noch seinem Volk darf man demnach glauben, lautet die Botschaft. Es gebe dort ein "System der falschen Ehrenwörter".

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Wie in den Ausgaben zuvor ist von einem "Weltkrieg" die Rede, den Sankt Petersburg in "frevelhafter, verbrecherischer Absicht" entfache mit seinem Komplizen Frankreich.

Die Münchner Journalisten stellen die Führung in Paris als "dienstbare" Erfüllungsgehilfin Russlands dar. Die französischen Politiker seien ehrsüchtige politische Dilettanten", geifert die Zeitung und stößt Drohungen gegen die beiden Mächte aus: Frankreich werde die "entsetzlichen Folgen" des Krieges zu tragen haben. Und nach Osten gerichtet: "Russland wollte den Krieg, es wird ihn fühlen!"

Nicht im Blatt: Die wichtigste Nachricht des Tages

Unerwähnt bleibt, dass deutsche Truppen das neutrale Belgien überfallen haben ( hier mehr dazu). Und das, obwohl Großbritannien deutlich macht, dass die Unverletzlichkeit des kleinen Staats zwischen Deutschland und Frankreich über Krieg und Frieden entscheidet.

Außenminister Edward Grey habe erklärt: "Wenn die Neutralität Belgiens verletzt werde, so sei die Situation klar." Die Royal Navy und die britische Armee sei mobilisiert, schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten.

Die wichtigste Nachricht des Tages erreicht die Münchner Journalisten nicht mehr vor Redaktionsschluss. Sie lautet: Großbritannien erklärt Deutschland den Krieg.

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