Münchner Neueste Nachrichten vom 20. Juli 1914:Deutsche Angst vor russischem Riesen

Zar Nikolaus II. segnet seine Truppen während des russisch-japanischen Krieges, 1904/05

Hoch zu Ross und mit Heiligenbildchen: Zar Nikolaus II. segnet seine Truppen während des russisch-japanischen Krieges, 1904/05.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

1914 in der Zeitung: Französisch-russische Gespräche lassen die Furcht vor einem Krieg wachsen, ein Journalist warnt vor aufgebauschten Spionagefällen - und der FC Bayern München fordert, dass weniger Fußballspiele stattfinden.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Spannungen, überall Spannungen: An der rumänisch-bulgarischen Grenze gibt es Zwischenfall. Ein rumänischer Trupp soll einen bulgarischen Posten überfallen haben, einen Soldaten verwundet und zwei entführt hat. In Mexiko zettelt ein General eine neue Revolution an. Aus Albanien wird ein "neues Geplänkel" von der Küste gemeldet. Und in Moskau ist ein Bäckeraufstand ausgebrochen, in Sankt Petersburg streiken 100 000 Arbeiter. So steht es im Morgenblatt der Münchner Neuesten Nachrichten am 20. Juli 1914.

Die Leser bekommen am selben Tag aber noch ein anders wirkendes Russland-Bild vermittelt: das vom russischen Riesen, der Deutschland bedroht. Anlässlich des damals stattfindenden Besuchs des französischen Präsidenten Raymond Poincaré in St. Petersburg zitiert die SZ-Vorgängerin ausführlich Textpassagen eines französischen Russlandkorrespondenten und fügt eigene Anmerkungen hinzu.

Zunächst wird auf den wirtschaftlichen Aufschwung im Zarenreich hingewiesen. Anders als in Mitteleuropa, entfaltet sich in Russland die Industrialisierung erst jetzt, im neuen Jahrhundert. Besonders augenfällig seien die Fortschritte bei der Armee. Im Winter 1916 werde die Armee des Zaren eine Stärke von mehr als 2,2 Millionen Mann haben, heißt es. "Wir müssen so stark sein, dass wir der ganzen Welt den Frieden aufzwingen können", soll der Zar Nikolaus II. verkündet haben.

Das Münchner Blatt schreibt, der französische Journalist habe außerdem beschrieben, wie das Kräfteverhältnis bei einem Krieg zwischen den verbündeten Mittelmächten Österreich-Ungarn und Deutschland auf der einen Seite, und auf der anderen Russland mit Frankreich wäre: Zuungunsten von Berlin und Wien.

Die Schilderungen sind aus heutiger Sicht ein Beleg dafür, wie paranoid die Staatsführungen vor 100 Jahren waren. Die Großmächte hatten das Gefühl, die anderen Staaten würden sie bedrohen und bald an militärischer Stärke überflügeln. So glaubte die deutsche Führung im Sommer 1914 tatsächlich, einen ohnehin unvermeidlichen Waffengang gegen den "Erbfeind" Frankreich und Russland beginnen zu müssen - ein späterer Zeitpunkt sei ungünstig für das Reich.

Was in dem Text der Münchner Neuesten Nachrichten unerwähnt bleibt: Nicht einmal zehn Jahre zuvor hatte eine Revolution die Macht des Zaren beschränkt. Die Niederlage im Russisch-Japanischen Krieg (1904/1905) bedeutete nicht nur einen Gebietsverlust für den Zaren, sondern zeigte auch Grenzen der militärischen Fähigkeiten seiner Armee. Außerdem gärte es in seinem nach wie vor vom Feudalismus geprägten Riesenreich.

Das alte Russland sollte untergehen im anstehenden Ersten Weltkrieg, der knapp eine Woche nach dem 20. Juli 1914 beginnen sollte. Damals glaubten (und hofften manche) Politiker wie Journalisten, dass der serbisch-österreichische Konflikt auf den Balkan beschränkt bleibt. Die Münchner Neuesten Nachrichten zitieren die Norddeutsche Allgemeine Zeitung mit dem Satz, es sei das "solidarische Interesse Europas" den Frieden zu wahren und, dass die "Auseinandersetzungen, die zwischen Österreich und Serbien entstehen können, lokalisiert bleiben."

Militärexperte warnt vor "Spionageriecherei"

Die Zeitung vor 100 Jahren meldet, dass die Spitzen von Österreich-Ungarn sich in Wien treffen. Inhalte sickern nicht durch, nur, dass es sich um eine "längere Besprechung" über die "Beziehungen zu Serbien" handelte. Dabei hat sich die kaiserlich und königliche Führung längst zum Krieg entschieden und sich Rückendeckung vom deutschen Kaiser Wilhelm II. geholt.

Der schippert in jenen Tagen vor den Küsten Skandinaviens herum. Mal nimmt der Kaiser mal einen Gesandtenbericht entgegen, dann feiert er an Bord seiner Yacht Hohenzollern Gottesdienst, lässt sich an Land bringen und spaziert dort "mit einigen Herren seiner Umgebung".

In Deutschland wird schon wieder von einem angeblichen russischen Spion in der deutschen Armee berichtet. Die sich häufenden Fälle ordnet der leider namentlich nicht genannte "militärische Mitarbeiter" der Münchner Neuesten Nachrichten in einem Text ein, der mit "Spionage und Spionagefurcht" überschrieben ist. Seine These: Es gibt keinen völligen Schutz vor Spionage und viele angebliche Agenten sind gar keine. Oft handelt es sich demnach nur um Missverständnisse oder die Anschuldigungen sind so konstruiert, dass man sie mit gesundem Menschenverstand als unlogisch erkennen kann.

"Hüten wir uns also davor, diese Dinge aufzubauschen", mahnt er, "damit wir nicht wie unsere Nachbarn in Ost und West in eine Spionageriecherei verfallen, die nur den harmlosen Reisenden belästigt und den Verkehr erschwert." Denn auch das ist wahr: In anderen Staaten wie etwa in Frankreich fühlt man sich ebenfalls ständig beschnüffelt und ausgehorcht - und nimmt vermeintliche Agenten fest.

Im Königreich Bayern geht es hingegen einigermaßen behaglich zu. In Bamberg findet das Fränkische Sängerbundesfest mit 5000 Barden statt. Das durch Wolkenbrüche verursachte Hochwasser, was vor allem am Alpenrand den Menschen zu schaffen gemacht hat, geht zurück. Und in Pullach im Isartal gab es am Wochenende eine verspätete Maibaumaufstellung, die Tausende lockte und "großen Anklang" fand: Besonders gewürdigt werden der Kindergesang, der Schuhplattlertanz - und die "bengalische Beleuchtung am Abend".

Der populärer werdende Randsport Fußball wird in der Ausgabe vor 100 Jahren ausnahmsweise ausführlicher behandelt. Auf dem "18. Verbandstag des Verbandes süddeutscher Fußballvereine" in Nürnberg fordert der gerade mal 14 Jahre zuvor gegründete FC Bayern München Maßnahmen, um die Spielbelastung zu mindern. "Die Münchner Bayern hatten den Antrag eingebracht, dass sich Süddeutschland während seiner Meisterschaftsspiele nicht mehr an Länder- und sonstigen Repräsentationsspielen beteilige", heißt es. Der Antrag wurde abgelehnt.

Ein richtiger Entschluss, wie man 100 Jahre (und vier Weltmeistertitel) später feststellen kann.

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