Italien:Erbsen zählen bei den Nörglern

Die EU streitet mit Italiens Regierung über ein bisschen Neuverschuldung, doch der Hintergrund ist ernst. Brüssel geht es um Entschlossenheit, Premier Renzi um Stärke vor der wichtigen Volksabstimmung.

Von Oliver Meiler, Rom

Der Ton ist gegeben, und er ist scharf und schrill. Seit einigen Tagen schimpft Matteo Renzi auf die "Bürokraten in Brüssel". Italiens Premier wirft der Europäischen Kommission vor, sie sei kurzsichtig und stur, sie reite auf Kommastellen herum, wo doch die Europäische Union in großen Kategorien denken müsse, wenn sie eine Zukunft haben wolle. Man kann Renzi schlecht widersprechen. Allein der Anlass für das Donnerwetter ist etwas fragwürdig.

Gestritten wird über 0,1 Prozent mehr oder weniger Neuverschuldung, vordergründig wenigstens. Im Haushaltsentwurf für 2017, den die italienische Regierung vor einigen Tagen für eine Begutachtung der Kommission zukommen ließ, schätzt Rom das Defizit für das nächste Jahr auf 2,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Brüssel will aber nur 2,2 Prozent billigen. In absoluten Zahlen beträgt die Differenz der Positionen nur 1,7 Milliarden Euro - eine Bagatelle. Man könnte von einer Groteske reden.

Doch so einfach ist es nicht. Die Vorgabe von 2,2 Prozent ist schon ein Gefallen. Ausgemacht gewesen waren eigentlich 1,8 Prozent. Die Italiener hatten sich im vergangenen Frühjahr schriftlich dazu verpflichtet, nachdem man ihnen erneut viel Kulanz gewährt hatte. Es sollte ein Zeichen der Entschlossenheit sein. In der Zwischenzeit ist viel passiert. Seit der Schließung der Balkanroute kommen noch mehr Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Italien als zuvor. Und da sich viele Partnerstaaten weigern, die Last zu teilen und nach einem ausgehandelten Verteilschlüssel Migranten zu übernehmen, steigen die Kosten für Italien. Renzi fordert dafür nun im Budget mehr Flexibilität für 3,8 Milliarden Euro. Einige zusätzliche Milliarden will er auch für den Wiederaufbau der mittelitalienischen Dörfer ausgeben dürfen, die im August vom Erdbeben zerstört wurden. Vorgesehen ist außerdem Geld für Prävention.

Italien: Protest vor historischer Kulisse: Am Kolosseum in Rom gab es am Wochenende Demonstrationen gegen den Kurs von Premier Matteo Renzi.

Protest vor historischer Kulisse: Am Kolosseum in Rom gab es am Wochenende Demonstrationen gegen den Kurs von Premier Matteo Renzi.

(Foto: Andrew Medichini/AP)

Die EU findet, die Regierung in Rom rechne zu großzügig. Gerade so, wie es ihr passe

In Brüssel ist man bereit, diese beiden Sonderfälle zu berücksichtigen. Man findet aber auch, die italienische Regierung rechne viel zu generös - gerade so, wie es ihr passe. Auch stört sich die Kommission daran, dass Renzi einen beträchtlichen Teil der geplanten Einnahmen mit Einmalmaßnahmen erzielen will, etwa mit einer Steueramnestie. Dabei müsste Italien seinen enormen Schuldenberg - das wahre Problem - endlich mit System und Struktur abbauen. In der Euro-Zone sind nur Griechenlands Staatsschulden höher. Und deshalb erwartet Brüssel von den Italienern, dass sie sich mehr Mühe geben bei der Kontrolle ihrer jährlichen Haushaltsrechnungen als etwa Franzosen und Spanier, die weniger Schulden haben und sich höhere Defizite leisten dürfen. Renzi sagt, er finde das unfair, Italien sei Nettozahler der EU. Das Wort "unfair" dürfte in den kommenden Wochen häufiger fallen.

Hintergründig geht es bei diesem Streit über 0,1 Prozent Neuverschuldung natürlich mehr als nur um Erbsenzählerei. Für Renzi geht es in diesem Herbst innenpolitisch um alles. Am 4. Dezember stimmen die Italiener in einem Referendum über die neue Verfassung ab, seine wichtigste Reform. Mit einer Neugestaltung des Parlaments soll der Gesetzgebungsprozess verschlankt und die Exekutive gestärkt werden. Verliere er die Abstimmung, so sagte Renzi vor einigen Monaten, trete er zurück. Die Umfragen sagen ein knappes Rennen voraus; noch sind viele Bürger unentschieden. Renzi versucht sie zu überzeugen, reist dafür unermüdlich durch das Land, tritt ständig im Fernsehen auf, redet, warnt, erklärt. Man merkt ihm an, dass er sich seiner Sache nicht sicher ist.

Müsste er den Italienern nun auch noch ein hartes Haushaltsgesetz unterbreiten, eines mit neuen Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen, würde alle Hoffnung auf einen Sieg rasch schwinden. Darum braucht er dringend Spielraum, einige Milliarden, zum Beispiel für bessere Renten. So etwas kommt gut an. Das lässt sich auch viel besser vermitteln als die sperrige, technische Materie der Verfassungsreform. Auch die kämpferischen Töne gegen die Brüsseler Technokraten kommen im zunehmend euroskeptischen Italien gut an. Normalerweise reden die Populisten so. Renzi erreicht damit Konsens.

Matteo Renzi in Taormina to present next G7

Premier Renzi muss für seine neue Verfassung heftig kämpfen. Am 4. Dezember stimmen die Italiener in einem Referendum darüber ab.

(Foto: Tiberio Barchielli/dpa)

Verliert Renzi, gerät Italien in einen Strudel der Instabilität. Nach dem Brexit will das niemand

In Brüssel hofft man trotzdem innig, der Nörgler aus Rom möge gewinnen. Das hofft man auch in Berlin, Paris, Washington. Verlöre Renzi, geriete Italien unmittelbar und unweigerlich in einen Strudel politischer Instabilität. Und das kann niemand wollen, so kurz nach dem Brexit. Man darf also annehmen, dass sich die Differenz, diese 0,1 Prozent, am Ende mit einem Kompromiss überbrücken lässt. Brüssel will dabei aber möglichst den Eindruck erwecken, es habe auf den Regeln des Stabilitätspakts beharrt. In einem Brief, der in Rom jede Stunde erwartet wird, dürfte die Kommission Italiens Regierung rügen und auffordern, einzelne Posten nachzurechnen. Alles für die äußere Form. Den Bruch kann sie sich nicht leisten.

Renzi weiß das. Nichts werde er ändern am Etat, sagte er nun - ganz egal, was im Brief aus Brüssel stehe. Sein Wirtschaftsminister, Pier Carlo Padoan, sonst ein Mann ausnehmend bedachter Töne, warnte die Kommission in einem Interview in der Zeitung La Repubblica mit einer dramatischen Prognose: "Sollte die EU unser Budget zurückweisen, wäre das der Anfang vom Ende." Europa würde damit nur zeigen, dass es nicht an der Seite Italiens stehe, das mit viel Anstrengung Flüchtlinge rette und bei sich aufnehme. Sondern an jener Ungarns, das Mauern errichte. Es sind dies ganz große Fragen, wegen 0,1 Prozent mehr Neuverschuldung.

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