Gesundheitsreform in den USA:Mit Risiken und Nebenwirkungen

Gesundheitsreform in den USA: In West Virginia sind viele Jobs gestrichen worden - und Armutskrankheiten wie Übergewicht oder Diabetes sind weit verbreitet.

In West Virginia sind viele Jobs gestrichen worden - und Armutskrankheiten wie Übergewicht oder Diabetes sind weit verbreitet.

(Foto: Brendan Smialowski/AFP)

Nirgendwo sonst brauchen Amerikaner so viel Hilfe bei der Krankenversicherung wie in West Virginia, trotzdem wollen sie Obamacare loswerden. Ein Besuch.

Reportage von Hubert Wetzel, Fairmont

Zuerst tat Mina Schultz nur das Knie weh. Das war vor sechs Jahren, Schultz war 25. Als die Schmerzen nicht nachließen, ging sie in die Klinik. "Ich weiß noch, als ich mit dem Röntgen fertig war, fragte ich den Arzt aus Spaß, ob er etwas Schlimmes gefunden hat. Er sagte: Seien Sie froh, dass Sie hergekommen sind." Es war Knochenkrebs. Aber die Krankheit war heilbar. Heute ist Mina 31 und muss nur noch einmal im Jahr zur Kontrolle.

Schultz hatte Glück. Sie ist früh zum Arzt gegangen, der Krebs wurde rechtzeitig entdeckt und behandelt. Vor allem aber hatte sie eine Krankenversicherung. Würde Mina Schultz, die deutsche Vorfahren hat, in Altötting oder Vechta leben, wäre das nicht der Rede wert. Aber sie lebt in Fairmont, einer kleinen, heruntergekommenen Industriestadt am Monongahela River in West Virginia. Viele Leute hier sind arbeitslos und arm. Und auch wenn sie Arbeit haben, kommen sie gerade so über die Runden.

Das mittlere Haushaltseinkommen in West Virginia beträgt 42 000 Dollar - pro Jahr und brutto. Davon muss eine Familie Essen bezahlen und die Raten für das Haus und Benzin und neue Reifen für das Auto, denn ohne Auto kommt man nicht zur Arbeit, und dann sieht es übel aus. Wer kann sich da eine Krankenversicherung leisten, die jeden Monat noch einen halben Tausender oder mehr wegfrisst?

OP kostet so viel wie ein Haus

Zumindest war das so, bevor Präsident Barack Obama 2010 die nach ihm benannte Gesundheitsreform durchsetzte. Obamacare hatte zum Ziel, jenen Menschen, die aus eigener Kraft keine Krankenversicherung abschließen konnten, weil sie zu arm oder krank waren, mit staatlicher Hilfe eine bezahlbare, vernünftige Police zu verschaffen. Was für ein Segen die Reform war, kann man an Mina Schultz sehen. "Meine Knieoperation hat so viel gekostet wie das Haus meiner Eltern wert ist, meine erste Chemotherapie so viel wie ein Jahresgehalt meiner Mutter", sagt sie. Dank Obamacare konnte die Familie die Behandlung bezahlen, ohne bankrott zu gehen.

Nach dem Willen der Republikaner und von Präsident Donald Trump sollte es Obamacare nicht mehr lange geben. Trump aber ist an diesem Freitag mit seinem Vorhaben gescheitert. Er hat nicht genug Republikaner hinter seinem Ersatz-Gesetz versammeln können. Die geplante Abstimmung wurde abgesetzt.

24 Millionen Menschen, so eine seriöse Prognose, könnten in den kommenden zehn Jahren ihre Krankenversicherung verlieren - vier Millionen Menschen mehr, als durch Obamacare eine Versicherung erhalten haben. Die Rate der Unversicherten in Amerika, die durch Obamacare in den vergangenen sechs Jahren von 16 auf acht Prozent gefallen ist, würde wieder dramatisch steigen.

West Virginia bräuchte eine gute Gesundheitsversorgung

West Virginia ist einer der amerikanischen Bundesstaaten, die besonders hart betroffen wären. Er ist bitterarm, die Jobs im Kohlebergbau, die früher Geld und ein gutes Mittelklasse-Leben brachten, sind verschwunden. Die Menschen leiden unter typischen Armutskrankheiten - vergammelte Zähne, Übergewicht, Diabetes, Depression. "Leiden der Verzweiflung" sagt man dazu, und das klingt sehr viel poetischer als es ist.

Seit einigen Jahren verheert die Opioid-Epidemie ganze Landstriche. Aids und Hepatitis breiten sich rasch aus. Viele ehemalige Bergarbeiter haben kaputtgeschuftete Knochen oder Staublungen. Fast überall in Amerika werden die Menschen gesünder und leben länger. Nur in West Virginia werden sie kränker und sterben früher.

Wenn es also einen Bundesstaat gibt, der eine gute Gesundheitsversorgung nötig hat, dann West Virginia. Und Obamacare hat die Lage deutlich verbessert. Fast 200 000 Menschen in West Virginia haben derzeit eine Obamacare-Krankenversicherung - entweder, weil die US-Regierung ihre Prämien bezuschusst, oder weil sie in die bereits bestehende staatliche Versicherung für Arme (Medicaid) aufgenommen wurden. Das sind gut zehn Prozent der Bevölkerung. Die meisten dieser Menschen waren zuvor unversichert oder hatten untaugliche Policen. "Obamacare war für uns ein echtes Gottesgeschenk", sagt die Sozialarbeiterin Stacy North. "Wenn wir Obamacare verlieren würden, wäre das ein unglaubliches Desaster."

Trump-Staaten profitieren eigentlich von Obamacare

Das mag so sein. Allerdings denken längst nicht alle Bewohner des Bundesstaates so. West Virginia ist einer der konservativsten Staaten der USA. Bei der Präsidentschaftswahl im November siegte der Republikaner Trump hier mit satten 69 Prozent der Stimmen. Trump verdankte seinen Sieg einem populistischen Wahlkampf, in dem er den Leuten versprach, dass die stillgelegten Kohlegruben bald wieder aufgemacht, die Stahlwerke wieder angeheizt würden. Das kam gut an in den zerrütteten Bergbau-Städtchen - jedenfalls viel besser als das Versprechen der Demokratin Hillary Clinton, man werde durch die Förderung grüner Energie "sehr viele Kohlekumpel arbeitslos machen".

Aber Trump versprach auch offen, dass er das "Desaster Obamacare" beenden und die Gesundheitsreform zurückdrehen werde. Die Republikaner versuchen das seit Jahren, im Parlament haben sie einige Dutzend Mal für die Abschaffung von Obamacare gestimmt. Doch immer scheiterten sie am Widerstand der Demokraten oder am Veto von Präsident Obama. Diesmal scheiterten sie an sich selbst.

Mina Schultz und Stacy North können sich nicht erklären, warum so viele Menschen in West Virginia, deren Gesundheit oder Leben von Obamacare abhängt, einen Kandidaten gewählt haben, der die Abwicklung dieser Reform propagiert. Dieses Phänomen war auch nicht auf West Virginia beschränkt - auch in Kentucky, Ohio, Wisconsin oder Pennsylvania, wo Trump gewonnen hat, profitieren Millionen Menschen von Obamacare.

"Vielleicht haben die Leute Trump einfach nicht ernst genommen. Vielleicht haben sie auch seinem Versprechen vertraut, etwas Neues zu schaffen, das allen Amerikanern eine Versicherung gibt", sagt Schultz. Die Sozialarbeiterin North sagt: "Ich glaube, viele Leute machen sich überhaupt nicht klar, was passieren wird, wenn Obamacare kippt. Sie hören nur das Wort ,Obama', und dann sind sie dagegen."

Solidarisches System stößt auf Ablehnung

Zudem wurde Obamacare von einigen Problemen geplagt. Vor allem ältere, kranke Menschen kauften sich eine subventionierte Versicherung, das verteuerte die Prämien für alle Versicherten. "Die Amerikaner mögen es einfach nicht, dafür bezahlen zu müssen, dass andere Leute eine Krankenversicherung haben", sagt Stacy North. "Im Grunde geht es um die Frage, ob eine Krankenversicherung ein Recht für alle ist oder ein Privileg für die, die es sich leisten können. Keine Versicherung funktioniert ohne Solidarität. Das Risiko wird auf viele Menschen verteilt. Niemand ist dagegen, dass das bei der Autoversicherung so gemacht wird. Aber bei der Krankenversicherung sind alle dagegen."

North weiß, wovon sie redet. Ihr eigener Sohn Derek, der in einer Bar jobbt, lebt lieber ohne Versicherung, als jeden Monat einen Hunderter für die Prämie auszugeben. "Er ist jung und hält sich für unverwundbar, und wenn er krank ist, geht er halt in die Notaufnahme. Da müssen sie ihn behandeln. Dass das auch Geld kostet, das dann die Allgemeinheit bezahlen muss, ist ihm egal."

Für einen großen politischen Fehler halten Experten Obamas Entscheidung, die Einkommensobergrenze, von der an keine Prämienzuschüsse mehr bezahlt werden, bei 47 000 Dollar für Einzelpersonen zu ziehen. Dadurch seien wichtige Teile der Mittelschicht von Obamacare ausgeschlossen worden, sagt Simon Haeder, Professor an der West Virginia University und Fachmann für Gesundheitspolitik. Aus Sicht dieser Leute, die 50 000 oder 55 000 Dollar verdienen, aber deswegen noch lange nicht reich sind, war Obamacare vor allem eine weitere Sozialleistung für Menschen, die nicht für sich selbst sorgen können. Eine höhere Obergrenze hätte vielen Menschen - darunter vielen Trump-Wählern - Zugang zu Obamacare gegeben und damit ein politisches Interesse, dass die Reform bestehen bleibt.

Mina Schultz kann als ehemalige Krebspatientin kein Risiko eingehen. Sie braucht eine verlässliche Krankenversicherung, deswegen hat sie sich einen neuen Job gesucht, bei dem der Arbeitgeber sie versichert. Das schaffen nicht viele in West Virginia. Obamacare, die Versicherung, die ihr vor sechs Jahren das Leben rettete, ist Schultz zu unsicher geworden. Obamacare aber jetzt erstmal bleiben.

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