Gastbeitrag von Charlotte Knobloch:Was wir der Geschichte schulden

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Das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ist wertlos, wenn es nicht mit dem Kampf gegen Neonazis einhergeht. Staatliche Maßnahmen können einen umfassenden Dialog in der Gesellschaft allerdings nicht ersetzen: Das beweist das Unwissen vieler junger Menschen zum Thema Holocaust.

Charlotte Knobloch

Nur selten in seiner Geschichte war sich der Bundestag so einig wie an diesem Donnerstag, als er beschloss, einen Untersuchungsausschuss einzusetzen und eine Expertenkommission zu berufen, die beide klären sollen, wie es geschehen konnte, dass über ein Jahrzehnt hinweg die Zwickauer Terrorzelle Morde verüben und Anschläge begehen konnte.

Charlotte Knobloch, 79, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses. Bis 2010 stand sie dem deutschen Zentralrat der Juden in Deutschland vor. (Foto: dapd)

Diese Geschlossenheit ist politisch und sachlich geboten. Sie ist aber auch ein wichtiges Signal: Alle demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik sind sich bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus einig. Die Tage der Unbeschwertheit sind für die Neonazis vorbei. Dass dies am Tag vor dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar geschieht, hat ebenfalls Symbolkraft: Mit diesen Beschlüssen stellt sich ein Land einmal mehr seiner Geschichte.

Entscheidend wird nun sein, dass nicht nur die Versäumnisse und Ermittlungspannen rund um die Neonazi-Morde politisch aufgearbeitet werden. Sondern dass ohne Tabus die gesamte Strategie im Kampf gegen rechts - vom System der V-Leute bis hin zur Vorratsdatenspeicherung - auf Verhältnis- und Zweckmäßigkeit hin überprüft wird. An diesem historischen Punkt darf kein Paradigmenwechsel mehr von vornherein ausgeschlossen werden.

Die Erkenntnisse der vergangenen Monate waren so überraschend wie schockierend. Das betrifft aber nicht nur den Beweis, dass es in der Bundesrepublik gewachsene professionelle rechtsextremistische Strukturen gibt. Dies ist nicht neu, es haben sich nur viele dieser Erkenntnis verschlossen, mal naiv, mal ignorant und mal bewusst.

Ein kaltes Schaudern überkommt den Bürger aus einem weiteren Grund. Er hat den berechtigten Anspruch darauf, dass Legislative, Judikative und Exekutive in diesem Staat alles daransetzen, den ideologischen Feinden des Grundgesetzes das Handwerk zu legen. Nun sieht er, dass die Terroristen unfreiwillige Helfer in eben jenen fanden, die es sich doch zur Aufgabe gemacht haben, die verfassungsrechtliche Grundordnung und die Bürger zu schützen.

Verfassungsschützer am Roulettetisch

Kaum einer hätte es sich bislang vorstellen können, dass deutsche Sicherheitsbehörden derart unbedarft und in letzter Konsequenz schlicht falsch taktieren. Es ist bis heute nicht fassbar, dass Kommunikationsdefizite verhindert haben, dass die bundesweite Vernetzung des Thüringer Trios erkannt wurde. Schließlich will sich niemand vorstellen, dass Verfassungsschützer quasi wie am Roulettetisch Geld auf V-Leute setzen - in der wagen Hoffnung, so sachdienliche Hinweise zu gewinnen, immer aber auch in der Furcht, dass diese Leute das Geld vom Staat nutzen, um rechtsextreme Propaganda zu betreiben.

Vieles, was da offenbar geworden ist, sprengt die Vorstellungskraft der Bürger. Vor allem aber überschreitet es die Grenzen dessen, was in unserer doch eigentlich recht gut funktionierenden politischen Kultur dieses Landes erträglich ist. Auch das verschleppte Verbot der NPD gehört in diesen Zusammenhang. Die rechtsextreme Partei diente den Terroristen als Plattform, als Showroom offen praktizierter neonazistischer Gesinnung. Überdies verfestigt sich der Verdacht, dass aktive und ehemalige Funktionäre billig und willig als Anwälte, Komplizen, Waffendealer oder Herbergsmütter und -väter des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) fungierten - alles dies staatlich finanziert.

Die Befreiung von Auschwitz
:Das Ende des Holocaust

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Etwa 7000 Menschen befanden sich noch in dem Lager - für immer gezeichnet von den Gräueltaten der Nazis. Bilder von damals und heute.

Trotz aller anderslautenden Selbstverpflichtungen an den Gedenktagen für die Opfer des Nationalsozialismus: Bislang hatten die Neonazis zu leichtes Spiel. Noch immer können sie fast ungehindert Unfrieden, Hass und Angst über diesem Land ausschütten. Sie suchen Dörfer und Städte heim und vergiften die Atmosphäre mit menschenverachtender Ideologie. Aufrechte Bürger schüchtern sie mit verbaler oder tatsächlicher Gewalt ein. Kinder, Jugendliche, leichtgläubige oder nach Halt suchende Menschen verführen sie mit billigen Heilsversprechen und simplen Lösungsvorschlägen. Agitation, Hass, Rassismus und Angst packen sie in einnehmende Parolen.

Die Befreiung von Auschwitz
:Das Ende des Holocaust

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Etwa 7000 Menschen befanden sich noch in dem Lager - für immer gezeichnet von den Gräueltaten der Nazis. Bilder von damals und heute.

Zu keiner Zeit wurde gegen die gewalttätige militante Rechte so entschlossen vorgegangen, wie es nötig und zu erwarten gewesen wäre. Das muss sich jetzt - besser später als nie - elementar ändern. Die Menschen in diesem Land haben ein Recht darauf, dass die Gegner unserer freiheitlichen Demokratie die volle Wucht des Staates zu spüren bekommen. Zu lange warten sie darauf, dass die gebündelte Staatsgewalt den Rechtsextremisten den Kampf nicht nur ansagt, sondern dass sie diesen Worten auch konsequent Taten folgen lässt.

Es ist an der Zeit, den Feinden von Freiheit und Frieden entgegenzutreten. Sie haben im öffentlichen Raum keinen Platz. Sie haben nichts in Parlamenten verloren und auch nicht in Schulen, Stadthallen oder Gaststätten, wo sie sich mit ihren Versammlungen einzuklagen versuchen.

Fest steht aber auch: So zwingend notwendig und überfällig entschlossenes staatliches Durchgreifen auch ist, so unentbehrlich ist parallel dazu ein gesamtgesellschaftlicher Kraftakt. Staatliche Maßnahmen sind kein Ersatz für neue Strategien im Kampf um die Köpfe. Rechtsextremes Gedankengut lässt sich nur im geduldigen Dialog ausräumen. Ohne eine kluge sozialpsychologisch fundierte Kommunikation sowie eine ehrliche, tabufreie und übergreifende Auseinandersetzung kann dies nicht gelingen.

Wie viel da noch zu tun ist, zeigte sich in dieser Woche gleich zweifach: Mehr als 20 Prozent der unter 30-Jährigen können einer Umfrage zufolge mit dem Begriff Auschwitz nichts anfangen. Und der Expertenbericht der Bundesregierung zum Antisemitismus zeigt, dass Judenfeindlichkeit in Deutschland vor allem dort vorkommt, wo Unkenntnis herrscht. Beides zusammen offenbart traurige Defizite unserer politischen Kommunikation und unseres Bildungsapparats und ist ein alarmierender Weckruf.

Unsere Vergangenheit hat uns ein eindeutiges Vermächtnis hinterlassen. Es lautet: Nie wieder! Gewalt und Diskriminierung sind nicht das Problem der betroffenen Gruppen, sondern der Gesellschaft, die sie zulässt. Unsere Demokratie lebt von Zivilcourage, von der Wachsamkeit und dem guten Willen aller Bürger. Unser Staat ist Angelegenheit und Aufgabe seiner Bürger. Sie sind verantwortlich dafür, dass jeder, der an einem friedlichen, respektvollen Miteinander interessiert ist, in dieser Republik in Freiheit leben kann. Nur so bleibt dieses Land eine liebens- und lebenswerte Heimat für alle Menschen.

Charlotte Knobloch, 79, ist Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses. Bis 2010 stand sie dem deutschen Zentralrat der Juden in Deutschland vor.

© SZ vom 27.01.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Etwa 7000 Menschen befanden sich noch in dem Lager - für immer gezeichnet von den Gräueltaten der Nazis. Bilder von damals und heute.

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