Flüchtlingsdeal mit Ankara:Angela Merkel reist ins Herz der Krise - an die syrische Grenze

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Ein Lager für syrische Flüchtlinge nahe der türkischen Stadt Gaziantep. Bundeskanzlerin Merkel besucht die Region an diesem Samstag. (Foto: Lefteris Pitarakis/AP)

Die Kanzlerin besucht ein Flüchtlingslager im Grenzgebiet zwischen Türkei, Syrien und dem Irak. Dort ist es nicht ungefährlich - aber das ist längst nicht Merkels einziges Problem.

Von Stefan Braun, Daniel Brössler, Berlin/Brüssel

Einfach wird es nicht. Und ungefährlich wird es erst recht nicht. Das Auswärtige Amt jedenfalls rät strikt ab von Fahrten ins türkische Grenzgebiet zu Syrien und zum Irak. "Alle nicht zwingend erforderlichen Reisen in diese Gebiete sollten vermieden werden", heißt es in den Reisehinweisen. Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt sich davon freilich nicht abhalten.

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An diesem Samstagnachmittag wird sie in der südostanatolischen Millionenstadt Gaziantep landen, in "zwingend erforderlicher" Mission, versteht sich. Der EU-Türkei-Deal zur Entschärfung der Flüchtlingskrise ist weiterhin hochgradig gefährdet. Merkel hält es für dringend geboten, zusammen mit EU-Ratspräsident Donald Tusk und EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans symbolträchtig ins Zentrum der Krise zu reisen.

Mehrheit der Deutschen sieht das Abkommen mit der Türkei kritisch

Der Trip ist so heikel wie nötig, nach innen wie nach außen. In Deutschland herrscht große Skepsis. Die heftige Debatte um den Satiriker Jan Böhmermann wirkt nach. Jüngste Umfragen zeigen, dass eine große Mehrheit der Deutschen das Abkommen kritisch betrachtet und Merkels Verhalten gegenüber dem türkischen Präsidenten als zu nachgiebig empfindet.

Zumal die türkischen Behörden immer wieder selbst Misstrauen schüren. Zuletzt war es ein ARD-Journalist, den sie nicht einreisen ließen. In Deutschland nährt das weiter die Abneigung, mit der Türkei zu kooperieren. Deshalb reist die Kanzlerin bewusst dorthin, wo die Vereinten Nationen mit Mitteln der EU neue Flüchtlingseinrichtungen errichten. Sie will zeigen, dass sich mit dem Flüchtlingsdeal auch Gutes, Humanitäres verbindet.

Der Besuch der Europäer soll aber auch der türkischen Bevölkerung ein Signal senden. Denn auch dort gibt es erhebliche Widerstände gegen die Aufnahme der Flüchtlinge. Mittlerweile drängen gut eine Million Syrer auf den türkischen Arbeitsmarkt, das erhöht Spannungen. Deshalb hat der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu eine Visite immer wieder eingefordert - als Zeichen dafür, dass die EU nicht nur eigene Sorgen, sondern auch die Probleme der Türken im Blick hat.

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Im Abkommen vom 18. März verpflichten sich beide Seiten zu einem Gegengeschäft. Wer als Migrant von der Türkei aus in Griechenland ankommt, wird zurückgeschickt. Für jeden zurückgeschickten Syrer nimmt die EU einen Syrer auf legalem Wege aus der Türkei. Insgesamt sechs Milliarden Euro zahlt die EU bis einschließlich 2018 zum Wohle der Flüchtlinge in der Türkei. Bis Ende Juni soll die EU außerdem - wenn alle Bedingungen erfüllt sind - die von den Türken lang ersehnte Visafreiheit einführen.

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Auf den ersten Blick scheint die Umsetzung des Deals gut anzulaufen. In den drei Wochen vor seinem Inkrafttreten sind nach Angaben der EU-Kommission 26878 Migranten auf den griechischen Inseln angekommen, in den drei Wochen danach waren es 5847. Die Rückführung in die Türkei - nach individueller Prüfung jedes Asylantrags - läuft allerdings schleppend. Nur 325 Personen sind bislang zurückgeschickt worden, unter ihnen zwei Syrer. Noch geringer ist die Zahl derer, die von der EU seither offiziell aufgenommen wurde. Gerade mal 114 Syrer kamen so in die EU, 54 davon nach Deutschland.

Besonders heikel ist das Thema Visumfreiheit. Für die Türken ist es eine zentrale Bedingung. Sollte die EU diesen Teil der Vereinbarung nicht erfüllen, könne auch niemand erwarten, dass sich die Türkei an ihre Verpflichtungen halte, warnte Davutoğlu diese Woche.

Der Deal soll unbedingt halten

Allerdings muss die Türkei 72 Auflagen erfüllen, um dieses Ziel zu erreichen. Der Chef der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), sagte der Süddeutschen Zeitung: "Jetzt hat vor allem die türkische Regierung eine Bringschuld." Weber, Chef der größten Fraktion im EU-Parlament, warnte: "Die Zustimmung des Europäischen Parlaments ist alles andere als nur eine Formsache. In der EVP-Fraktion gibt es nach wie vor viel Kritik". Klar sei aber auch, "dass alle Seiten in der Verantwortung stehen, ihren Teil der Vereinbarungen einzuhalten, soweit die Voraussetzungen dafür erbracht sind".

Der Deal soll unbedingt halten. Deshalb auch die Reise mit Tusk. Der Umgang mit der Migrationskrise habe "zeitweise große Differenzen offen gelegt", sagte Weber. "Die gemeinsame Reise der Bundeskanzlerin und des EU-Ratspräsidenten in die Türkei unterstreicht jetzt nicht nur den gemeinsamen Willen, sondern auch den gemeinsamen Weg. Es ist das richtige Signal zur richtigen Zeit."

Die Opposition in Deutschland sieht das anders. Der Grünen-Politiker Jürgen Trittin rief Merkel dazu auf, nicht die Augen vor der Realität zu verschließen. "Sie muss in der Türkei auch mit Irakern und Afghanen sprechen", verlangte Trittin. Diese seien "die Verlierer des schmutzigen Deals". Tatsächlich gehört zum Abkommen mit Ankara, dass die EU Syrer aus der Türkei übernehmen wird, aber keine Flüchtlinge aus anderen Staaten.

© SZ vom 23.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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