Türkei:Jack Nicholson unterm Minirock

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Jack Nicholson unter dem Minirock: Szene aus dem Trailer des Filmfestivals Istanbul. (Foto: N/A)

Der türkische Präsident Erdoğan ist im eigenen Land nicht der allmächtige Sultan, der er gerne wäre. Das zeigen das Filmfestival und das Kulturleben Istanbuls.

Von Paul Katzenberger, Istanbul

Würde Jan Böhmermann in der Türkei leben, so säße er jetzt im Gefängnis. Eine Festnahme blieb Azize Tan erspart, obwohl sie mit dem deutschen Satiriker eins gemeinsam hat: den türkischen Staat herausgefordert zu haben. Im Unterschied zu Böhmermann allerdings als Bürgerin der Türkei und damals in hervorgehobener Position - als Leiterin des renommierten Filmfestivals Istanbul, dessen 35. Auflage soeben zu Ende ging.

Im vergangenen Jahr hatten türkische und kurdische Regisseure beim Festival für einen Eklat gesorgt, weil sie ihre Filme mitten im laufenden Festival aus dem Wettbewerb zurückzogen. Tan solidarisierte sich öffentlich mit den Aufrührern, die ihren Boykott mit dem Vorwurf der Zensur begründeten, nachdem Ankara kurzfristig die Aufführung eines Dokumentarfilms zur Kurden-Problematik verboten hatte. Festivalleiterin Tan machte sich den Zensur-Vorwurf ausdrücklich zu eigen, wozu in der Türkei einiger Mut gehört.

Wurde ihr die eigene Courage zum Verhängnis? Das ist die Frage, die sich inzwischen aufdrängt. Denn Tan ist nicht mehr Leiterin des Istanbuler Festivals. Wurde sie von höherer Stelle zum Rücktritt von ihrem Posten gedrängt, als sie im Sommer 2015 die Festivalleitung in die Hände ihres damaligen Stellvertreters Kerem Ayan legte? Für die internationalen Fachblätter ist es eine klare Sache: Tan ist ein Opfer des autoritären türkischen Staates, das für mangelnden Gehorsam bestraft wurde.

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Doch ganz so einfach liegen die Dinge im Land an der Bruchlinie zwischen Orient und Okzident selten. Tan selbst betont, aus freien Stücken zurückgetreten zu sein. Das könnte zwar mit einem Maulkorb zu tun haben, der ihr von höherer Stelle verpasst wurde. Doch in Istanbuler Film-Kreisen wird bestätigt, dass die Festival-Leiterin schon länger amtsmüde war. Ihr Mann lebt seit vier Jahren in Edinburgh, und sie habe mehr Zeit mit ihm verbringen wollen. "Druck von oben gab es nicht. Aber die Ereignisse des letzten Jahres haben ihren Rückzug befördert", sagt ein langjähriger Beobachter des Festivals.

Erst Solidarität, dann Streit

Denn mit dem Boykott war der Ärger für Tan längst nicht erledigt. Ein paar Wochen nach der Protestaktion geriet sie in Streit mit eben jenen Filmemachern, mit denen sie sich zuvor solidarisch erklärt hatte. Die schrieben einen offenen Brief, in dem sie dem Festival vorwarfen, wortbrüchig geworden zu sein. Ihnen sei zugesagt worden, dass sie ihre zurückgezogenen Filme im kommenden Jahr in Istanbul zeigen dürften, doch diese Zusage habe das Festival plötzlich einkassiert.

Der neue Festival-Leiter Kerem Ayan widerspricht dieser Aussage: "Richtig ist, dass den Boykotteuren das Angebot unterbreitet wurde, sich wieder bewerben zu können. Und alle sieben Filme, die im vergangenen Jahr zurückgezogen und die erneut eingereicht wurden, sind in diesem Jahr zu sehen gewesen."

Wer was wie genau wann versprochen hat, oder nicht - in einem Land, in dem schon die einfache Frage nach dem richtigen Weg oft in wortreiche Antworten mündet, aber in keiner eindeutigen Route, lässt sich das manchmal schwer herausfinden. Es spricht vieles dafür, dass es Azize Tan einfach zu viel wurde, im Hin und Her zwischen staatlicher Willkür und kapriziösen Filmemachern ein freiheitliches Filmfestival zu organisieren - mit all dem Ärger, den das mit sich bringt.

Willkür des Staates

Denn die Verhältnisse in der Türkei sind kompliziert. Da ist auf der einen Seite ein mächtiger Staat, der autoritäre Züge zeigt, indem er zum Beispiel den deutschen Botschafter ins Außenministerium einbestellt, nur weil bei einem deutschen Regionalsender eine vergleichsweise harmlose Satire über Präsident Erdoğan lief. Und der Journalisten ins Gefängnis werfen lässt, nur weil sie Sachverhalte zutreffend dargestellt haben - und dem jederzeit zugetraut werden kann, ein Filmfestival zu zensieren.

Da ist auf der anderen Seite das Vermächtnis des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk, der das Land westlicher Lebensart und aufklärerischem politischen Denken weit geöffnet hat. Wie mächtig auch dieser Nachlass ist, lässt sich beim Istanbuler Filmfestival deutlich erkennen. Löste 2015 der Rauswurf der Kurden-Doku über Kurden einen Eklat aus, so liefen in diesem Jahr nichtsdestotrotz zahlreiche Filme, die die Kurden-Problematik zum Thema hatten - auch "Toz Bezi" ("Dust Cloth"), der Siegerfilm des nationalen Wettbewerbs, der schon bei der Berlinale zu sehen war, behandelt das Thema.

Erstaunlicherweise wurden alle Filme zum Kurden-Sujet vom türkischen Kultusministerium gefördert, also von genau jenem Staat, der sich andererseits inzwischen wieder in einem Bürgerkrieg mit den Kurden befindet.

Hartes Leben zweier Kurdinnen in Istanbul: Szene aus "Dust Cloth", dem Siegerfilm des nationalen Wettbewerbs beim Filmfestival Istanbul. (Foto: Meryem Yavuz)

Kurden oder Türken, zurückgebliebene Provinz oder die Moderne der Stadt, arrangierte Heirat oder freigewählte Liebesverbindung - auf Gegensätze dieser Art trifft man beim Istanbuler Festival in nahezu jeder Vorstellung. Verpackt ist das Ganze in eine progressive Corporate Identity: Im Festivaltrailer zeigen rockerhafte Typen und junge Frauen Tätowierungen auf nackter Haut mit berühmten Filmmotiven.

Das entspricht ganz offensichtlich dem westlichen Selbstverständnis der IKSV ( İstanbul Kültür Sanat Vakfı), der Stiftung, die das Festival ausrichtet. Hinter ihr steht die Industriellen-Familie Eczacıbaşı, die mit pharmazeutischen Produkten reich wurde.

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Als Sponsor bereichert die IKSV das Istanbuler Kulturleben mit der ganzen Vielfalt und dem Widerspruchsgeist künstlerischen Schaffens aus allen Teilen der Welt. Nicht nur ein hochkarätiges internationales Filmfestival steht jedes Jahr auf ihrer Agenda, sondern auch ein Jazz-, Musik-, Theater- und Designfestival. Alle zwei Jahre organisiert sie zudem eine Kunst-Biennale. Das ist viel künstlerische Freiheit, die sich da in Erdoğans Geburtsstadt darbietet.

Folgen des Terrors

Alle Veranstaltungen müssten den qualitativen Vergleich mit westlichen Festivals nicht scheuen - gäbe es nicht eine neue Entwicklung, für die die Festival-Organisatoren freilich nichts können: den Terror durch den sogenannten "Islamischen Staat" (IS).

Die dschihadistischen Killer verübten 2015 und 2016 in Ankara, Diyarbakır, Istanbul, Suruç und weiteren Städten eine ganze Welle von Bombenattentaten, die mehr Tote forderten, als es jeweils in Paris oder in Brüssel gab. Besucher meiden die Türkei daher inzwischen.

Das Filmfestival Istanbul bekam das in diesem Jahr schmerzlich zu spüren: Viele Filmschaffende blieben fern, die einleitende Pressekonferenz sowie die Eröffnungszeremonie mussten abgesagt werden, und eine Podiumsdiskussion fiel ins Wasser, weil von vier Diskutanten nur einer erschienen war.

Die Freiheit des Wortes ist in Istanbul manchmal beschnitten, doch das hat nicht nur mit Jan Böhmermann, Recep Tayyip Erdoğan oder Angela Merkel zu tun, sondern auch mit dem jüngsten Terror, der Besucher Istanbuls davon abhält, sich im angesehenen Kulturleben der Stadt ein Bild von der Lage der Welt zu machen.

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