Deutschland und die Türkei:Solidarität nicht mit Erdoğan, sondern mit der Demokratie

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  • Die Bundesregierung reagiert überrascht auf den Putschversuch in der Türkei.
  • In der Flüchtlingskrise ist Erdoğan der wichtigste Partner für Berlin und Brüssel, doch das Verhältnis war zuletzt sehr angespannt.
  • Im Umgang mit den Putschisten wird Merkel auf Rechtsstaatlichkeit bestehen.

Von Nico Fried

Ein Militärputsch in der Türkei? Auch die Bundesregierung wurde von den Ereignissen überrascht. Bundeskanzlerin Angela Merkel befand sich noch beim euro-asiatischen Gipfel in der Mongolei, als sie die Meldungen aus Istanbul und Ankara erreichten. Im Auswärtigen Amt kam ein Krisenstab zusammen, Außenminister Frank-Walter Steinmeier ließ sich über die Lage unterrichten. Merkel, Steinmeier, SPD-Chef Sigmar Gabriel und Kanzleramtschef Peter Altmeier standen laut Regierungssprecher Steffen Seibert in Kontakt. Die Folgen einer Eskalation wären unabsehbar gewesen: In vielen Bundesländern haben die Sommerferien begonnen, und trotz der jüngsten Terroranschläge halten sich Tausende deutsche Touristen in der Türkei auf.

Am Samstagmorgen mongolischer Ortszeit, als der nächtliche Putschversuch noch im Gange und die Situation unübersichtlich war, twitterte Seibert zunächst den Appell, dass die demokratische Ordnung respektiert und alles getan werden müsse, um Menschenleben zu schützen. Etwas später schloss sich EU-Ratspräsident Donald Tusk an, der eine Rückkehr zur verfassungsmäßigen Ordnung in der Türkei forderte und die volle Unterstützung der EU für die demokratisch gewählte Regierung und die Herrschaft des Rechts erklärte. Die Türkei, so Tusk, sei "ein Schlüsselpartner für die EU".

Schon die Formulierungen der offiziellen Erklärungen machten deutlich: Die Solidarität der Bundesregierung gilt nicht in erster Linie der Person von Präsident Recep Tayyip Erdoğan als vielmehr dem demokratischen System. In Berlin hat niemand ein Interesse an einer instabilen Türkei oder gar einem Bürgerkrieg. Nicht zuletzt die Auswirkungen auf drei Millionen türkischstämmige Bürger in Deutschland wären unabsehbar. Und noch immer befinden sich Millionen Flüchtlinge vor allem aus dem Nachbarland Syrien in der Türkei, deren Schicksal in einem im Chaos versinkenden Land völlig ungewiss wäre.

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Erdoğan als wichtiger Partner

Andererseits hat Merkel bei aller Irritation über Erdoğan und seine Bemühungen, gerade das demokratische System mit Macht zu seinen Gunsten zu verändern, stets anerkannt, dass der Präsident sich auf demokratische Mehrheiten in der Bevölkerung berufen kann. In der Flüchtlingskrise ist Erdoğan der wichtigste Partner für Berlin und Brüssel überhaupt. Und trotz aller Unstimmigkeiten mit der EU wegen der verweigerten Visa-Freiheit hat sich der Präsident bisher an das Abkommen gehalten. Es weist der Türkei die Rolle zu, die illegale Migration über die Ägäis zu unterbinden, während die EU sich mit zunächst drei Milliarden Euro an der Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei beteiligt und die Aufnahme von Flüchtlingskontingenten zumindest in Aussicht gestellt hat.

Der Fall Böhmermann und die Armenien-Resolution des Bundestages haben jedoch zuletzt das bilaterale Verhältnis zusätzlich belastet. Revanche für aus seiner Sicht unangemessenes Verhalten der Deutschen nahm der Präsident jüngst, indem er Bundestagsabgeordneten den Besuch auf dem Stützpunkt Incirlik verweigerte - unter Nato-Partnern ein Affront erster Klasse. In Incirlik sind Aufklärungstornados der Bundeswehr stationiert, die ein von den USA und Frankreich geführtes internationales Bündnis im Kampf gegen den IS unterstützen. Für den Fall, dass der Militärputsch erfolgreich ist, müssten sie wohl sofort abgezogen werden.

Rechtsstaatlichkeit im Umgang mit den Putschisten

Der Putschversuch dürfte die Kanzlerin auch überrascht haben, weil man in Berlin die innenpolitische Rolle des türkischen Militärs schwächer eingeschätzt hatte als früher. Der Gegensatz zwischen einer moderat islamischen Regierung und dem säkularen Militär war offenkundig, seit Erdoğans AKP 2002 die Macht errungen hatte und Erdoğan 2003 Ministerpräsident geworden war. Um seine Regierung abzusichern, musste Erdoğan daran gelegen sein, den Einfluss des Militärs zurückzudrängen. Aus Merkels Sicht war das in den Anfängen seiner Regierungszeit auch ein wichtiges Motiv Erdoğans für Beitrittsverhandlungen mit der EU: Mit dem Verweis auf die in Europa übliche zivile Kontrolle und die entsprechenden Erfordernisse der Beitrittskriterien hatte Erdogan ein geeignetes Instrument, um die Generäle in die Schranken zu weisen.

Am Samstagnachmittag wird Merkel zurück in Berlin erwartet. Mit an Bord ihres Regierungsflugzeuges ist der Schweizer Bundespräsident, der ursprünglich einen Rückflug via Istanbul gebucht hatte. Sollte Erdoğan die Lage in der Türkei wieder unter Kontrolle bekommen, dürfte es unter den Europäern in den nächsten Tagen vor allem darum gehen, Rechtsstaatlichkeit im Umgang mit den Putschisten einzufordern. Die Beziehungen zu einem Präsidenten, der nach Stunden der Schwäche ein ausgeprägtes Bedürfnis verspüren dürfte, Stärke zu zeigen, dürften dabei nicht weniger schwierig werden.

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