Atomwaffen:Der stille Held des Kalten Kriegs ist tot

Stanislav Petrov

Er bewahrte die Welt vor einem Atomkrieg. Bereits im Mai ist Stanislaw Petrow im Alter von 77 Jahren gestorben.

(Foto: AP)

Stanislaw Petrow hat Wachdienst, als 1983 ein Computer einen US-Raketenangriff meldet. Er widersetzt sich dem Befehl zum sofortigen Gegenschlag - und bewahrt die Welt wohl vor einem Atomkrieg.

Von Esther Widmann

Am 26. September 1983 ist Stanislaw Petrow 44 Jahre alt, Ingenieur und Oberstleutnant der sowjetischen Armee. Er versieht seinen Dienst in unsicheren Zeiten: Zwischen den USA und der UdSSR scheint die Möglichkeit eines atomaren Erstschlages gegeben, Ronald Reagan bezeichnet die Sowjetunion in einer Rede als "das Reich des Bösen". Und knapp vier Wochen vor jenem Tag hatte die sowjetische Luftwaffe ein südkoreanisches Passagierflugzeug mit 269 Menschen an Bord abgeschossen, weil es in den sowjetischen Luftraum eingedrungen war.

Oberstleutnant Petrow hat mal wieder Nachtschicht im Kontrollraum einer Satellitenüberwachungsanlage, die militärische Flugkörper meldet, vertretungsweise als Schichtleiter. Vier Stunden sitzt er schon ungefähr 50 Kilometer südlich von Moskau im Serpuchow-15-Bunker, und alles ist wie immer. Doch um 0.15 Uhr heulen plötzlich die Alarmsirenen, auf den riesigen Bildschirmen blinkt es in großen, roten Buchstaben: Start einer US-amerikanischen Atomrakete, mit maximaler Wahrscheinlichkeit.

Der Befehl für diesen Fall lautet: Sofort die Kommandozentrale informieren, um den Gegenschlag auszulösen. 11 000 nukleare Sprengköpfe stehen bereit. Petrow zögert. Die visuelle Überwachung zeigt nichts an. Und überhaupt - warum sollten die Amerikaner einen Angriff mit einer einzigen Rakete starten?

Acht Männer, die mit ihm Dienst haben, warten auf seine Entscheidung. Wenn er einen Angriff meldet, werden Millionen Menschen sterben, die US-Amerikaner sollen allenfalls 20 bis 30 Minuten länger zu leben haben als die Menschen in der Sowjetunion. Petrow greift zum Telefon und ruft das Führungskommando an: "Fehlalarm", sagt er in den Hörer. In diesem Moment zeigt das System vier weitere Raketenstarts an, die Sirenen heulen wieder. Petrow sagt noch einmal: "Fehlalarm."

Aber sicher, dass seine Einschätzung richtig ist, kann er sich erst 17 Minuten später sein - so lange dauert der Flug einer Interkontinentalrakete von den US-Basen aus. Auf dem Radar taucht in den 17 Minuten tatsächlich keine Rakete auf. Nirgendwo schlägt eine Rakete ein. Keine amerikanische - und auch keine sowjetische.

Wie nah die Welt in jener Nacht des 26. September 1983 dem Atomkrieg war, wusste jahrelang niemand. Erst 1992, als es die Sowjetunion nicht mehr gab und den Kalten Krieg auch nicht, hat Petrows ehemaliger Vorgesetzter der Zeitung Prawda von dem Vorfall erzählt.

Der rote Knopf hätte ohnehin nicht funktioniert

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte Petrow einmal, dass es an dem Steuerpult, vor dem er saß, tatsächlich diesen berühmten roten Knopf gab. Trotzdem darf man sich nicht vorstellen, dass Petrow einfach nur auf diesen Knopf hätte drücken müssen, um den Gegenangriff auszulösen. "Der rote Knopf hat nie funktioniert, er war nirgends angeschlossen", sagte Petrow in dem Interview. "Unsere Militärpsychologen hatten entschieden, dass man einem einzelnen Menschen nicht die Aufgabe übertragen kann, den Krieg gegen ein anderes Land per Knopfdruck zu beginnen."

Warum er den nuklearen Gegenschlag nicht einleitete? Dachte er vielleicht an seine Familie? Nein, sagte er später. "Ich wusste nur, von dieser Entscheidung hängt viel ab. Letztlich bin ich meiner Erfahrung und meinem Instinkt gefolgt, die mir sagten, da stimmt was nicht", sagte er der Welt.

Erst Monate nach dem Fehlalarm stellte sich heraus, dass die Beobachtungssatelliten offenbar die Reflexion von Sonnenstrahlen als Raketenstart interpretiert hatten, und das ausgerechnet über einer Militärbasis. Ein "teuflischer Zufall", wie Petrow sagte. Er selbst hatte das System mitentwickelt - und es hatte offenbar eben diese Schwachstelle.

Eine Kommission des Militärs untersuchte den Vorfall und sprach ihn schließlich von Fehlverhalten frei. Allerdings rügte sie ihn dafür, nicht alles im Logbuch dokumentiert zu haben. Auf die Frage nach dem Warum antwortete er: "Weil ich in der einen Hand ein Telefon hielt und in der anderen die Sprechanlage und ich keine dritte Hand habe." Entlassen, wie es manchmal kolportiert wurde, hat die Armee ihn nicht. Er verließ sie aus privaten Gründen ein Jahr später und arbeitete für das Forschungsinstitut, das das Frühwarnsystem entwickelt hatte.

Ein Held? Heute würde er anders handeln

Ein Held wollte er nie sein, auch nicht, als er nach Bekanntwerden seiner Tat mit Preisen bedacht wurde: dem Dresden-Preis etwa oder dem World Citizen Award. Die Vereinten Nationen ehrten ihn bei einer Versammlung in New York. Petrow aber bestand darauf, einfach nur seinen Job gemacht und die Informationen richtig interpretiert zu haben. "Ich wollte absolut nicht der Auslöser für den Dritten Weltkrieg sein", sagt er in dem Dokumentarfilm, der die Geschichte unter dem Namen The Man Who Saved The World (Der Mann, der die Welt rettete) erzählt.

Allerdings bekannte er auch einmal freimütig, dass er heute anders handeln würde - und einen Gegenschlag auf den Weg bringen würde. Damals seien beide Seiten davon ausgegangen, dass ein Angriff immer sofort in riesigem Maßstab passieren würde. Heute hingegen sei die militärische Strategie, zuerst mit einzelnen Raketen die wichtigen Kommunikationsanlagen des Gegners auszuschalten.

Petrow lebte als Rentner zurückgezogen und allein in einer kleinen Wohnung in einem Vorort von Moskau. Er hatte einen Sohn, eine Tochter und zwei Enkelkinder. Erst jetzt ist bekannt geworden, dass er am 19. Mai dieses Jahres im Alter von 77 Jahren starb.

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