Riskante Manöver :Wenn es im Verkehr brenzlig wird

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Drängler riskieren viel, für sich selbst und andere. Eine Handhabe gegen ihr Verhalten gibt es oft nicht. (Foto: dpa)

Pendler kennen das: Auf den Straßen wird gedrängelt, aufgeblendet und gehupt. Dabei halten sich die meisten selbst für gute Autofahrer

Von Benjamin Engel, Wolfratshausen

Im Seitenspiegel nimmt Julia G. (Name geändert) nur ein weißes Blitzen wahr. Dann rauscht der blaue Kombi an ihrem Auto vorbei. Die doppelt durchgezogene Linie am Autobahnzubringer in Richtung Wolfratshausen ignoriert der Fahrer an dem Abend Anfang Mai gegen 22.10 Uhr einfach. Die 57-jährige Julia G. ist geschockt. Sie sitzt auf dem Beifahrersitz neben ihrem 62-jährigen Mann Harald G. Als der aufblinkt, stoppt der Kombi vor ihnen abrupt - und sie müssen ebenfalls auf die Bremse treten. "Ich hatte große Panik, dass der Fahrzeugführer aussteigt. Für einen Notruf habe ich das Handy bereitgelegt. Die Situation war sehr beängstigend", schildert Julia G. fünfeinhalb Monate später die Situation im Wolfratshauser Amtsgericht.

Das Ehepaar G. hat den Vorfall angezeigt. Doch obwohl es der Polizei das Autokennzeichen melden konnte, bleibt der 20-jährige Halter des Kombis ungestraft. Jugendrichter Urs Wäckerlin spricht den Heranwachsenden im Prozess um den Vorfall vom Vorwurf der Nötigung frei. Denn dass der junge Mann selbst am Steuer des Wagens gesessen hat, kann ihm nicht nachgewiesen werden. Der Wolfratshauser spricht davon, sich mit einer Clique von Autofans regelmäßig am McDonald's-Parkplatz im Wolfratshauser Gewerbegebiet zu treffen. Immer, wenn jemand etwas Neues in seinem Auto verbaue, verleihe er es für eine kurze Spritztour an die anderen. "Ich kann mich an die Sache nicht erinnern. Ich bin da nicht mit dem Auto gefahren", sagt der junge Mann aus.

Immer mehr Termine führen zu Stress und aggressiver Fahrweise

Vor allem Pendler erleben öfters brenzlige Situationen: Es wird aufgeblendet, gehupt, zu eng aufgefahren und gedrängelt. Den Eindruck, dass es unter Autofahrern immer aggressiver zugeht, kann der Murnauer Verkehrspsychologe Peter Breu nicht bestätigen. "Ganz subjektiv habe ich den Eindruck, dass die Zahl nicht quantitativ, sondern eher qualitativ gestiegen ist", sagt er. Nur 13,3 Prozent der Führerscheinbesitzer hätten überhaupt Punkte im Fahreignungsregister in Flensburg. Vier bis fünf Punkte - bei acht Punkten ist der Führerschein in der reformierten Verkehrssünderdatei weg - hätten gar nur 0,79 Prozent. Die allermeisten Autofahrer hielten sich an die Verkehrsregeln, sagt Breu und fügt hinzu: "Es gibt aber eine hohe Dunkelziffer."

Eindeutige Schlüsse lassen auch die Statistiken des Kraftfahrtbundesamt in Flensburg nicht zu. Zwischen 2007 und 2016 ist die Zahl der pro Jahr registrierten Straftaten und Ordnungswidrigkeiten kaum gestiegen - von 4,65 auf 4,72 Millionen. Den Hauptanteil daran hatten Geschwindigkeitsübertretungen. Sie stiegen um rund 300 000 auf gut drei Millionen Fälle. Verkehrsverstöße unter Alkohol und Drogen gingen zurück. 2016 wurden 2,4 Prozent weniger Straftaten (rund 213 000) vor Gericht verurteilt als noch im Vorjahr. 223 000 Mal wurde 2016 der Sicherheitsabstand nicht korrekt eingehalten. Das sind fast zehn Prozent mehr Verkehrsverstöße in dieser Kategorie als 2015. Unter die Rubrik "Überholen, Begegnen, Vorbeifahren" fallen 94 000 Verkehrsverstöße, 5,6 Prozent mehr als im Vorjahr.

Erst kürzlich hatte der Verkehrspsychologe zwei Autofahrer in seiner Praxis, die riskant überholt hatten. "Beide Male wäre es beinahe zum Zusammenstoß gekommen", schildert er. Oft seien sich solche Autofahrer ihres Fehlverhaltens aber gar nicht bewusst. "Sie halten sich für gute, vorausschauende und sichere Fahrer. Eigene Fehler blenden sie aus." Breu konfrontiert sie dann mit den Einträgen im Fahreignungsregister. Doch er ist sich bewusst, dass er das Verhalten kaum beeinflussen kann. Ordneten die Behörden den Besuch beim Verkehrspsychologen an, habe er nur zweimal 75 Minuten. Zu wenig, um viel erreichen zu können.

Der Blitzmarathon hilft laut Experten kaum, ein tempolimit wäre besser

In der Verdichtung des Arbeitslebens sieht Breu einen der Gründe für aggressives Fahren. Manche takteten ihre Termine so eng, dass sie kaum noch zu schaffen seien. Wer mit dem Auto unterwegs sei, gerate so schnell in Stress. Immer mehr technische Hilfsmittel verschärften die Situation. "Die sagen sich dann, das Autofahren läuft von ganz allein." Mit dem Übergang zum automatisierten Fahren würden die Probleme nach Breus Ansicht steigen - vor allem solange noch "normale" Fahrzeuge unterwegs seien.

Immer noch fallen hauptsächlich Männer bei Verkehrsverstößen auf. Nur 20 Prozent der Erwischten sind laut Breu Frauen. Vor allem wegen Alkohol und Drogen fielen männliche Autofahrer auf. Lediglich Rechts-vor-Links-Verstöße und Unfälle im Kreisverkehr seien frauentypisch. Die rein negativen Sanktionen der Behörden hält Breu für den falschen Ansatz, um regelkonformeres Verhalten zu erreichen. "Aus der Lernpsychologie wissen wir, dass es besser ist, positives Verhalten zu belohnen", erklärt er. Wenn jemand korrekt Auto fahre, könnte er etwa bei der Kfz-Steuer entlastet werden. Mehr Kontrollen änderten am Verhalten eher nichts. Der viel gepriesene "Blitzmarathon" einmal im Jahr habe auf lange Sicht kaum Auswirkungen. Ein generelles Tempo-Limit auf Autobahnen fände Breu dagegen sinnvoll.

Im Wolfratshauser Amtsgericht mahnt Jugendrichter Wäckerlin den Angeklagten: Nötigung im Straßenverkehr sei eine Straftat. Einziges Ziel der Vollbremsung sei gewesen, zu zeigen, wer der Stärkere sei. Über die doppelt durchgezogene Linie zu überholen sei "brutal gefährlich". "Ich habe Sie nur freigesprochen, weil ich nicht feststellen konnte, wer der Fahrer war."

© SZ vom 03.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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