Autofreie Stadt: SZ Utopie Folge 1:Eine Stadt so schön wie München - nur ohne Autos

Autofreie Stadt: SZ Utopie Folge 1: Der Stachus in Grün - eine Utopie.

Der Stachus in Grün - eine Utopie.

Wie viele zusätzliche Busse, U-Bahnen, S-Bahnen bräuchte man, wenn die Straßen wieder den Menschen gehören sollen? Auftakt des neuen Formats "SZ Utopie": die autofreie Stadt.

Von Esther Widmann und Thomas Harloff

Wer wissen möchte, woher die Idee einer autofreien Münchner Innenstadt kommt, muss nur morgens an einer dicht befahrenen Straße tief Luft holen: Es stinkt. Der tägliche Berufsverkehr quält sich durch die Stadt, überall: Autos, Autos, Autos. Besonders vor Arbeitsbeginn und nach Feierabend schieben sich tonnenschwere Zeugnisse der Wohlstandskultur Stoßstange an Stoßstange an Wohnhäusern entlang.

Im Schritttempo, trotz üppiger Motorisierung, trotz Allradantriebs. So ein BMW 5er zum Beispiel, ein beliebtes Verkehrsmittel der Münchner, um vom Lehel nach Schwabing zu kommen, ist 4,94 Meter lang und bis zu 462 PS stark. Und steht in diesen Momenten mehr, als dass er fährt.

Die autofreie Stadt - eine Utopie

Im neuen Format SZ Utopie berichten wir über Fragen der Zukunft, Fragen, die heute noch als Idee, als Traum, vielleicht auch als Horrorszenario erscheinen - und schon bald Realität werden könnten. Beginnen wir mit einer Utopie, von der Tausende Menschen täglich träumen: Wie wäre es, wenn in einer Stadt wie München keine Autos mehr fahren würden? Lesen Sie hier alle Texte zu dieser Utopie.

Wenn die Abgasschwaden erst die Bremslichter und dann die Gehsteige in einen grauen, stinkenden Nebel hüllen, wird das Problem des Automobils sichtbar: Es kostet die Menschen in der Stadt ihre Gesundheit, ihre Ruhe und ihre Zeit. Die Feinstaub- und Stickoxidwerte sind hoch, zu hoch, und wer an vierspurigen Stadtstraßen entlangspaziert, der sagt sich selbst: Hier sollte eigentlich niemand wohnen müssen. München, das zeigt eine aktuelle Studie des Verkehrsdatendienstes Inrix, ist Deutschlands Stau-Hauptstadt. Im Durchschnitt steht hier jeder Autofahrer 49 Stunden pro Jahr im Stau, das ist eine volle Arbeitswoche.

Und so stehen die Menschen - zumindest in den Stoßzeiten - auf gut ausgebauten, mehrspurigen Straßen wie beispielsweise der Hohenzollern-, Belgrad- oder Paul-Heyse-Straße. Sie warten auf Trassen, die München zerschneiden, ohne ihre Nutzer wirklich voranzubringen. Besserung ist nicht in Sicht, ein Blick auf die Zahlen zeigt: Der Autobestand wächst kontinuierlich, derzeit zählt die Stadt München mehr als 700 000 zugelassene Pkw. Macht bei einer Einwohnerzahl von gut 1,5 Millionen Menschen 0,45 Autos pro Einwohner. Zum Vergleich: In Berlin liegt die Quote bei nur 0,33.

Allerhand Ideen, wie man die Münchner aus den Autos lockt

Ob ein Auto fährt oder steht, macht dabei keinen Unterschied. Zu den Abstellflächen braucht es Straßen. Alle Verkehrsflächen in München beanspruchen zusammen genau 5392 Hektar, das entspricht 17 Prozent des Stadtgebietes. Damit hat der Verkehr ähnlich viel Platz in München wie Menschen zur Erholung: 16 Prozent Park- und Grünanlagen bietet München seinen Bürgern.

Doch was, wenn es nicht so wäre? Man stelle sich vor: Eine Münchner Innenstadt, die völlig frei von Autos ist. Mit Straßen zwar, damit Busse, Rettungswagen und Polizeiautos darauf fahren könnten. Diese Straßen wären aber deutlich schmaler als die heutigen. Man stelle sich eine Innenstadt vor, die keine Parkplätze braucht, aus Parkhäusern würden Wohnhäuser. Man stelle sich eine Stadt vor, die ruhiger wäre, sauberer, sicherer. Lebenswerter.

Wenn die Utopie einer autofreien Stadt Wirklichkeit werden soll, muss der öffentliche Nahverkehr deutlich besser werden. Er muss 600 000 Menschen, die täglich in München Auto fahren, mit Bussen und Bahnen zu ihrem Ziel bringen können. Für die Münchner Verkehrsbetriebe würde das bedeuten: Fast 2,2 Millionen Menschen müssten am Tag transportiert werden, ein Drittel mehr als bisher. Und tatsächlich, es wird gebaut. Nur: Das neue Prestigeprojekt des Münchner Nahverkehrs, die zweite Stammstrecke, die 2026 in Betrieb gehen soll, wird die autofreie Stadt nicht ermöglichen. Die geplante S-Bahn-Trasse ist vielmehr als Sicherheitsnetz und Entlastung für die bisherigen Gleise gedacht - und nicht, um plötzlich ein Drittel mehr Passagiere zu befördern. Und für die vielen Pendler, die aus dem Umland jeden Tag nach München fahren, braucht es eigene Lösungen, Park-and-Ride-Angebote, Leihfahrräder, Fahrgemeinschaften.

Was also muss passieren? Nachfrage beim Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV). Dort hat man allerhand Ideen, wie man die Münchner aus den Autos lockt, hinein in die öffentlichen Verkehrsmittel. Hier ein paar Beispiele: Verbilligte Tickets für sozial Benachteiligte. Ein einfacheres Preissystem für die komplizierte Tarifstruktur. Elektronische Tickets fürs Handy. Sogar an die Infrastruktur will man ran, sagt MVV-Geschäftsführer Alexander Freitag.

Also: Takte verdichten, S-Bahnen im 10- statt 20-Minuten-Rhythmus fahren lassen. Zweigleisige Strecken bauen, dort, wo S-Bahnen heute ähnlich wie Autos im Stau stehen. Dazu die Außenäste der S-Bahnen ausbauen, genau wie Tram-Strecken im Stadtgebiet. Es soll eine S-Bahn-Ringlinie durch Münchens Süden geben, neue U-Bahn-Linien, etwa die U9 von der Implerstraße über den Hauptbahnhof bis zur Münchner Freiheit. Sogar doppelstöckige S-Bahnen kann sich Freitag vorstellen. Er sagt: "Wir werden es uns irgendwann nicht mehr leisten können, alleine im BMW-5er über die Leopoldstraße zu fahren."

Wann aber alle diese Ideen zur Realität werden, wann also Schluss sein soll mit vierspurigen Straßen mitten im Stadtgebiet, kann Freitag nicht beantworten. Das hänge vor allem von der konkreten Finanzierung, aber auch von der technischen Entwicklung ab, die heute niemand seriös einschätzen könne. "Wenn die Politik weiter so zögert wie in der Vergangenheit, kann es zäh werden. Ich bin aber optimistisch, weil inzwischen der Druck so groß ist, zum Beispiel durch drohende Fahrverbote", sagt Freitag.

Das Modell für die autofreie Stadt: München um 1900 - aber ohne Kutschen

Um die Idee einer autofreien Stadt zu verwirklichen, reicht es allerdings nicht, Menschen aus den Autos in U-Bahnen zu locken, und schon ist es geschafft. Steffen de Rudder, Professor für Städtebau an der Bauhaus-Universität Weimar sagte dem Deutschlandfunk Kultur: "Das Auto wird nicht ersetzt durch zu Fuß gehen oder Fahrrad fahren oder öffentlichen Nahverkehr oder durch Verkehrsvermeidung. Sondern durch das Bündel von diesen ganzen Sachen."

Besonders das Fahrrad, eigentlich ein Fortbewegungsmittel der Vergangenheit, kann in einer autofreien Stadt auf eine Renaissance hoffen. Aufwendige Pilotprojekte wie der neue Radschnellweg in Nordrhein-Westfalen zeigen schon heute, wie wichtig das Fahrrad für eine Zukunft ohne Autos werden wird. Auch die Grünen in München fordern, Radwege massiv auszubauen - zu Lasten der Autos. Mit der Bürgerinitiative "Sauba sog i" soll endlich eine Verkehrswende erreicht werden - weg vom Auto, hin zu umweltfreundlicher Mobilität.

Günter Emberger, Professor am Institut für Verkehrswissenschaften an der Technischen Universität Wien hält sich hingegen nicht damit auf, auszurechnen, wie viele Menschen von einem einzelnen Verkehrsmittel aufgefangen werden müssten. Emberger denkt in Vierteln, nicht in Rädern. Es existiere ja bereits ein Modell für eine autofreie Stadt, sagt Emberger: München, Wien oder jede andere Stadt um das Jahr 1900. Städte voller Fußgänger, Fahrräder - und Pferdekutschen. Zu denen will Emberger allerdings - "bitte, bitte, bitte!" - nicht zurück. Sein Ansatz sind nicht die Transportmittel, sondern die urbane Infrastruktur.

Um zu verstehen, was Emberger meint, lohnt sich ein Blick auf das Nutzungsverhalten der Menschen. Der Grund, weshalb Menschen mit dem Auto ans andere Ende der Stadt oder aus dem Zentrum herausfahren, sind nicht selten Einkaufscenter, die dort auf grüne Wiesen gebaut wurden: Möbelhäuser, Shopping-Malls, die ganz großen Dinger.

Embergers Idee: Wenn Einkaufsmöglichkeiten, Kindergärten, Schulen und Freizeitorte zu Fuß erreichbar wären, ginge es viel einfacher ohne Auto. Also: Die Stadt, das eigene Viertel, den Kiez wieder lebenswerter machen und fast nebenbei noch den Verkehr reduzieren. Dieses Konzept heißt "Stadt der kurzen Wege".

In einem Viertel voller Läden und Geschäfte bräuchte der Nahverkehr dann sogar nicht unbedingt mehr Kapazitäten, sagt Emberger. "Die Leute müssen einfach nicht mehr fahren." Die Mikrolokalität, die Identifizierung mit dem Kiez, finden viele Menschen ohnehin reizvoll. Weiterhin, und wirklich unbedingt ein Auto bräuchte man für Lieferverkehr, Handwerker, Serviceleistungen, Behinderten- oder Krankentransporte. Dieser Verkehr macht Schätzungen zufolge aber etwa fünf bis 15 Prozent aller Fahrten in einer Stadt wie Wien oder München aus. "In dieser Größenordnung kann man das mit modernisiertem Individualverkehr, also etwa mit Elektromobilität, machen", ist Emberger überzeugt.

Der Mensch ist kein Wassermolekül, sondern ein (meist) denkendes Wesen

Bevor jetzt Angst aufkommt, dass nun alle Menschen in ihren Vierteln festsitzen wie ein Jugendlicher auf dem Land ohne Moped: Der eigene Kiez bleibt Teil einer Großstadt - und ist mit seiner Umwelt durch Tram, U-Bahn, S-Bahn, Bus und Fahrradstraßen verbunden. So kommen die Menschen auch zu ihrem Arbeitsplatz, denn der Arbeitsmarkt wird sich kaum so gestalten lassen, dass alle in Laufnähe zu ihrer Arbeitsstätte wohnen. Die existierenden Beispiele wie etwa das autofreie Viertel Vauban in Freiburg oder die norddeutschen Inseln zeigen allerdings schon heute: Wenn sich die Strukturen lokal konzentrieren, geht es tatsächlich ohne Auto.

Und die Stadt, und damit auch der Steuerzahler, könnte damit womöglich sogar Geld sparen: Wissenschaftler der Universität Heidelberg haben in einer Studie ausgerechnet, dass deutsche Städte durchschnittlich 146 Euro je Einwohner und Jahr an Subventionen für den Kfz-Verkehr ausgeben. Das Geld fließt vor allem in die Instandhaltung der Straßen und den Winterdienst. Natürlich müssten auch in einer gänzlich autofreien Stadt Straßen gepflegt werden, für Feuerwehr, Polizei, Lieferwagen. Den Rest aber könnte man in Rad- und Fußwege investieren, um sie im Sommer von Schlaglöchern und im Winter von Schnee und Eis zu befreien.

Wie also kann man die Menschen überzeugen, besonders für kurze Strecken, aber auch für den Arbeitsweg, auf das Auto zu verzichten? Eine mögliche Antwort auf diese Frage steckt in den gängigen Modellen der Verkehrsplanung: Eine Straße wird oft als Wasserleitung verglichen. Die einfache Rechnung: Je mehr Wasser fließen soll, desto mehr Rohre braucht es. Eine zusätzliche Straße also verhindert Stau. Das Problem ist nur: Der Mensch, das sagt Verkehrsexperte Emberger, ist kein Wassermolekül, sondern ein (meist) denkendes Wesen.

Er reagiert auf seine Umwelt, auf Infrastruktur, auf seine Mitmenschen, er freut sich, er ärgert sich. Emberger ist überzeugt, dass man das Verhalten der Menschen steuern kann, also Anreize setzen muss. Weniger Parkplätze vor der Haustüre führten ganz automatisch dazu, dass die Menschen das Auto stehen lassen, ist sich Emberger sicher. Oder anders gesagt: Die Menschen fahren Auto, weil es eben so einfach ist.

Dem Auto also den Platz wegnehmen, das ist die Strategie, sagt auch Oscar Reutter vom Wuppertal-Institut für Klima, Umwelt und Energie. In Wuppertal funktioniert diese Strategie ganz gut - wenn auch eher unfreiwillig: Eine Großbaustelle am Hauptbahnhof führt zu einer Sperrung der Bundesstraße 7, die quer durch die Stadt führt. Viele Menschen, so erzählt es Reutter, waren anfangs besorgt: Wie um Himmels willen soll das gehen, wenn eine so zentrale Achse einfach dicht ist? Reutter sieht in der Vollsperrung ein Experiment, dessen Ergebnis auch für Städte wie München interessant ist: "Anfangs ruckelte es ein bisschen, aber nach ein paar Wochen haben sich die Menschen daran gewöhnt - und fahren jetzt beispielsweise mit der Schwebebahn."

Die Utopie einer autofreien Stadt
  • Münchner Freiheit

    Marie wacht auf, die Vögel zwitschern. Dort, wo früher SUVs durch die Straßen gedonnert sind, pflanzen Menschen Blumen an. Eine fiktive Reise durch das autofreie München. Folge 2 des neuen Formats "SZ Utopie".

  • Wo München schon autofrei ist

    Eine Stadt ohne Autos, klingt verrückt - dabei gibt es bereits Orte, in denen gute Luft und wenig Lärm zum Alltag gehören. Kann man hier etwas lernen? Folge 3 des neuen Formats "SZ Utopie".

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