"Rrrrrring!" Der Wecker reißt Marie aus dem Schlaf. Acht Uhr, Marie streckt ihre Arme weit von sich. Draußen ist es ruhig, bis zum Klingeln hat sie durchgeschlafen. Früher wachte sie oft schon um sechs Uhr auf, wenn die ersten Lastwägen über die Landshuter Allee vor ihrem Fenster donnerten. Marie öffnet die Rollläden, draußen zwitschern die Vögel. Ein kurzes Frühstück am offenen Fenster, rasch umziehen und ab nach draußen. In diesen Tagen hat es gegen neun Uhr schon an die 20 Grad, viele sind im T-Shirt unterwegs. Marie steigt auf ihr Fahrrad und fährt los, auf die Landshuter Allee.
Erst vor einigen Monaten hat München beschlossen, autofrei zu werden, und manchmal kann Marie es selbst noch nicht ganz fassen: Die Autos sind tatsächlich weg, auf einmal so viel freier Platz! Hunderte andere Fahrradfahrer sind bereits auf der sechsspurigen Straße unterwegs. Sie haben die Stadtautobahn nun weitgehend für sich, in der Mitte zieht gelegentlich ein Omnibus in Richtung S-Bahn vorbei. Marie hört das Knattern von Ketten, das Surren von Reifen, das Klicken von Gangschaltungen und hin und wieder ein Klingeln - ein Orchester der Mechanik begleitet Marie in den Tag.
Zwei ganze Fahrspuren von je drei Metern gehören jetzt den Fahrrädern
Sie biegt in die Nymphenburger Straße, Richtung Innenstadt. Es gibt dort zwei neue Fahrradspuren in jeder Richtung, an den Kreuzungen zusätzlich eine Abbiegemarkierung. Marie fädelt auf die linke Spur ein, zu den langsameren Verkehrsteilnehmern weiter rechts ist ein guter Meter Abstand. Wie anders war das noch vor einem Jahr. Im Berufsverkehr balancierten etliche Radfahrer auf einem schmalen Fahrstreifen, hinter- und nebeneinander, gefühlt übereinander. Direkt daneben lag der Fußgängerweg.
An manchen Stellen war das Nadelöhr weniger als einen Meter breit, und jeder musste hier durch: Schnelle Mittzwanziger auf ihrem Rennrad. Mamis mit ihren Kindern im Gepäck - oder die älteren Geschwister daneben auf dem eigenen Rad. Manchmal parkten Lieferfahrzeuge einfach auf dem Radweg. Irgendwann hörte Marie auf, die gefährlichen Situationen zu zählen und per E-Mail an die Stadtverwaltung zu schicken. Es waren einfach zu viele: Überholmanöver auf engstem Raum, Fußgänger, die im letzten Moment zur Seite sprangen. Autofahrer, die aus Nebenstraßen heraus den Radweg schnitten, ohne einmal nach links oder rechts zu schauen.
Jetzt hat Marie freie Bahn. Zwei ganze Fahrspuren von je drei Metern gehören den Fahrrädern, auch die Fußwege sind breiter geworden. Die Allee ist nun wieder eine Allee, keine Stadtautobahn, denkt Marie bei einem kurzen Blick zu den Bäumen. Sie bilden zu beiden Seiten der Straße ein Spalier. Marie schaltet in den nächsten Gang und zieht gemütlich an einem Schulkind mit breitem Ranzen vorbei. Von links spürt sie einen Luftzug. Schon hat der Mann im dunklen Anzug Marie überholt, während er angeregt in ein Headset spricht. Schickes Teil, denkt Marie beim Blick auf das scharf geschnittene E-Bike in carbongrau.
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So eins wird sie sich mit ihrem mickrigen Gehalt wohl nie leisten können. Andererseits haben in ihrem Viertel kürzlich erst zwei neue Läden für elektrische Fahrräder eröffnet. Die Preise scheinen zu sinken, der Markt kommt endlich in Bewegung. Und zwar nicht nur für Zweiräder: Ein junger Mann mit Bart und Lederrucksack rollt auf einem elektrischen Skateboard dahin, ein Mittvierziger, Typ Buchhalter, hat sich auf ein elektrisches Einrad gewagt. Marie überholt einen älteren Mann, der auf der Rückbank einer Fahrradrikscha fläzt.
Auch einige Boten mit grünen, gelben, roten Käppis sind auf den rechten Fahrspuren mit ihren elektrischen Lastenrädern unterwegs. Was hatten die Gegner der autofreien Stadt nicht alles vor der Volksabstimmung behauptet, um das Projekt aufzuhalten: Die Logistik werde zusammenbrechen, der Berufsverkehr zum Erliegen kommen. Doch davon ist nichts zu sehen, Maries Arbeitsweg kommt ihr vor wie ein großes Experimentierlabor der Mobilität. Sie schmunzelt, als sie sich an die Worte ihres Opas erinnert: "Wie ein Jahrmarkt auf der Straße", hatte er einst in den 1970ern zu den autofreien Sonntage gesagt: In Folge der Ölkrise war damals an wenigen Sonntagen die Straße für Autos Tabu.
Ein Hupen reißt Marie aus ihren Gedanken
Ein Taxi scheucht die Fahrradfahrer beiseite. Ganz ohne Kompromisse geht es wohl nicht, Marie macht Platz für das Auto. Der Fahrer beschleunigt sofort und hupt die nächsten Radler aus der Bahn. Eigentlich könnte der Mann doch zufrieden sein, ärgert sich Marie - schließlich steht er jetzt wohl seltener im Stau, und muss keine Konkurrenz mehr durch Uber-Fahrer fürchten. Der private Fahrdienst lässt sich nun besser regulieren, seitdem sie sich nicht mehr in der Masse der Autos verstecken können.
Dass man den Taxis die Weiterfahrt erlaubt, findet Marie in Ordnung, vor allem für ältere Leute ist diese Option wohl unverzichtbar. Ärgerlich aber, dass auch einige Tausend Privatpersonen Ausnahmegenehmigungen haben. Dass man eine erhält, wenn man beispielsweise einen Angehörigen pflegt, geht ja völlig in Ordnung. Aber Marie hat den Verdacht, dass viele die Scheine für den eigenen Vorteil ausnutzen. Warum sonst sind manche gerade im Berufsverkehr zu ihren Angehörigen unterwegs? Bei schlechtem Wetter wären mehr Ausnahmen hingegen wünschenswert, findet sie. Zwar sind bei Regen mehr Verstärker-Busse und Trams unterwegs, doch im vergangenen Winter reichte das noch lange nicht aus. Häufig mussten die Fahrer Pendler wegen Überfüllung stehen lassen - der Ärger war groß. Die Stadt denkt nun darüber nach, bei Mistwetter Carsharing-Anbietern den Zugang zur Straße zu erleichtern, und im Winter auch private Fahrgemeinschaften zuzulassen. Vielleicht keine schlechte Idee - jedenfalls besser, als das ganze Projekt wegen Schlechtwetterfrust zu gefährden, denkt Marie.
Kurz vor dem Stiglmaierplatz lässt Marie ihr Rad ausrollen und hält vor der hoch über der Straße hängenden Baustellenampel. Ein Loch so groß wie ein Tennisplatz klafft im Asphalt. Bagger und Kräne heben Erdreich aus, daneben schwitzen Bauarbeiter in der Sonne. Vielen Münchnern wurde die Idee einer autofreien Stadt mit dem Versprechen schmackhaft gemacht, die Fahrpreise für U-Bahnen, Tram, Bus und S-Bahn zu senken - und zugleich das Netz zu erweitern. Dass es so schnell gehen würde, hätte Marie nicht gedacht.
Nachdem die Pläne jahrelang in den Schubladen verstaubten, sieht Marie nun jeden Tag, wie es vorwärts geht. Vor ihr entsteht gerade die neue U-Bahn-Linie U9, die den Hauptbahnhof über die Pinakotheken mit dem Norden der Stadt verbindet - bis rauf zum Garchinger Forschungszentrum. Der Wegfall des Autoverkehrs hat Druck erzeugt, letztlich waren sich alle im Stadtrat einig, dass es die Strecke braucht - wie so viele andere neue Routen. Auch fünf neue Trambahnlinien sind geplant. Der S-Bahn-Ring im Süden wird ebenfalls kommen.
Fast täglich erscheinen Artikel über die "Fahrraddiktatur"
Die Baustellen nimmt Marie bislang gern in Kauf, sie weiß, dass viele im Bekanntenkreis ähnlich denken. Auf Partys ist das Autoverbot immer noch Thema Nummer Eins. Einige ihrer Bekannten sind froh, endlich eine schnelle Verbindung in die Industriegebiete im Norden zu bekommen. Andere freuen sich, dass sie in ihren Lieblingsrestaurants viel besser draußen sitzen können, seitdem Lärm und Feinstaub nicht mehr stören. Nicht ganz so gut läuft es für die Pendler in den Landkreisen - die Deutsche Bahn ist mit der Erweiterung des S-Bahn-Netzes offenbar überfordert. Ihre Freunde, die aufs Land gezogen sind, beneidet Marie derzeit nicht. Fast täglich erscheinen in den Boulevard-Zeitungen Artikel über die "Fahrraddiktatur", in dem gefrustete Vorstädter zitiert werden. Kürzlich rief ein Autofahrerclub zur "Autofahrer-Freiheitsfahrt" auf.
Ein Protest-Korso aus einigen Tausend Fahrzeugen verstopfte dann die Autobahn. Die Aktion erinnerte Marie ein wenig an die Events der Critical Mass Bewegung, die früher Fahrradkorsos in der Stadt organisiert hat. Über die Aktion der Autofahrer konnte Marie gut lachen, doch die Spaltung zwischen Stadt und Land findet sie beunruhigend. Ein Autoclub hat aus Protest seine Deutschland-Zentrale bereits nach Stuttgart verlegt, in dem neumodischen Turm werkeln nun Start-Ups. Zulieferfirmen für die Automobilindustrie drohen, Arbeitsplätze zu verlagern, sollte der Stadtrat nicht schnell Ausnahmen für einige Fahrzeugklassen beschließen. Andererseits macht die Stadt mit ihrer innovativen Verkehrspolitik weltweit Schlagzeilen. Fast jede Woche ist eine Delegation aus dem Ausland beim Oberbürgermeister zu Besuch.
Die Ampel schaltet auf grün, der Tross wartender Radfahrer gleitet an der Baugrube vorbei. Fünf Minuten später biegt Marie vom Odeonsplatz auf die Leopoldstraße ein, ihr letzter Abschnitt bis zum Ziel - und zugleich ihr liebster. Auf der großen Prachtstraße haben sich die Bürger einen Teil des öffentlichen Raums zurückerobert, die Straße ist nun aufgeteilt: Es gibt nur noch zwei Fahrspuren für Autos. In der Mitte des breiten Boulevards stehen große Blumenkästen, die beide Fahrtrichtungen voneinander trennen.
Die Beete können bei der Stadt gemietet werden, der Andrang ist riesig. Bereits jetzt am Vormittag sind viele gekommen, um nach ihren Pflänzchen zu schauen und sie mit Wasser zu versorgen. Viele legen auch am Abend, auf dem Rückweg von der Arbeit, einen Zwischenstopp bei den Urban-Gardening-Projekten ein - oder um mit den Nachbarn zusammen zu grillen und auf dem warmen Asphalt zu sitzen. In Giesing hat man auf den freigewordenen Flächen Bahnen für Boule oder zum Eisstockschießen gebaut, in Schwabing mitten auf der Straße Netze für Badminton und Volleyball gespannt.
An Dutzenden weiteren Beeten fährt Marie vorbei, bis sie die Einfahrt zu ihrem kleinen Büro in der Nähe der Giselastraße erreicht. Sie freut sich schon auf den Rückweg.