Natürlich hört man Kinderlärm. Sie rufen, schreien, lachen, quietschen vom Spielplatz herüber. Die Messestadt Riem ist Münchens kinderreichster Stadtteil, und man hört die Kinder, weil sie so viele sind, man hört sie aber auch, weil man sonst nichts hört. Ein paar Vögel zwitschern, aber sonst: nichts. Vor allem hört man keine Autos.
16 000 Einwohner leben in der Messestadt Riem - weitgehend ohne fließenden Verkehr. Helene Wagner ist eine von ihnen. Vor 18 Jahren ist sie hergezogen, mit ihrem Mann und den Kindern, in das erste autofreie Wohnprojekt Münchens. Wer spüren will, wie sich ein München ohne Autos anfühlen kann, spaziert durch die Fußgängerzone in der Altstadt. Wer aber wissen will, wie man einen Alltag ohne Autos lebt, der fragt Helene Wagner.
Wagner, die sich in ihrem Beruf zur besonderen Verschwiegenheit verpflichtet hat und deshalb lieber nicht mit echtem Namen in dieser Geschichte auftauchen will, hat es hier ruhig. Sehr ruhig. Denn in der Messestadt gibt es kaum fließenden Verkehr. Die Straßen sind deutlich schmaler als in anderen Wohnvierteln, am Rand stehen nur sehr wenige parkende Autos, die meisten Anwohner stellen ihre Wagen in einer der großen Tiefgaragen ab.
Die Wagners allerdings haben sich für einen radikaleren Schritt entschieden: Sie haben sich vertraglich verpflichtet, kein Auto anzuschaffen. Nicht damals beim Einzug, nicht jetzt und auch nicht in Zukunft. Das war die Bedingung, um eine Wohnung in Münchens erstem autofreien Wohnprojekt zu bekommen. Eine Bedingung, damit die Bauherren in der Messestadt eine Ausnahme von der Stellplatzverordnung genehmigt bekamen. Sie schreibt eigentlich vor, dass jede neu gebaute Wohnung einen Pkw-Stellplatz braucht - eine Regelung übrigens, die noch auf die Reichsgaragenordnung in der Nazizeit zurückgeht.
14 Familien unterschrieben beim Einzug, darunter viele mit kleinen Kindern, so wie die Wagners. Ihre Häuserreihe heißt heute "Autofrei Wohnen eins", weil es inzwischen auch "Autofrei Wohnen zwei" und "Autofrei Wohnen drei" gibt. Die Bewohner haben einen anderen Namen gefunden: "Ökonische" nennen sie diesen ersten Bauabschnitt. Helene Wagners Küche ist im Obergeschoss, von allen Seiten fällt Licht herein, draußen wildern die Gärten vor sich hin.
Autofreie Stadt: SZ Utopie Folge 1:Eine Stadt so schön wie München - nur ohne Autos
Wie viele zusätzliche Busse, U-Bahnen, S-Bahnen bräuchte man, wenn die Straßen wieder den Menschen gehören sollen? Auftakt des neuen Formats "SZ Utopie": die autofreie Stadt.
Kann aus der "Ökonische" ein Vorbild für die ganze Stadt werden? Also Nachfrage: Welche Lehren haben sie hier, in der Ökonische, gewonnen? Was sagen Verkehrsforscher dazu? Wie wird ein Viertel - und wie womöglich eine ganze Stadt - autofrei?
Erste Erkenntnis: Ganz ohne Verkehr geht es nicht
Natürlich geht es nicht ganz ohne Ausnahmen. Versorgungsfahrzeuge wie Feuerwehr, Rettungswagen und Müllabfuhr dürfen auch in der Messestadt Riem fahren, genauso wie öffentliche Verkehrsmittel. Die Wagners lassen sich ihre Getränke liefern, einer der wenigen Einkäufe, die sich mit dem Fahrrad schlecht erledigen lassen. Und auch den neuen Wohnzimmerschrank dürften sie mit dem Transporter ins Viertel bringen. "Wir machen das nicht wie die Amish-People, dass man hier nur mit der Pferdekutsche reinfahren darf", sagt Gunhild Preuß-Bayer von der Initiative "Wohnen ohne Auto", die auch in der Messestadt lebt.
Preuß-Bayer rechnet auch Taxis zu den öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie seien für Notfälle unverzichtbar, sei es, dass eine alte Dame in den Supermarkt muss oder Eltern mit müden Kindern vom Bahnhof nach Hause.
Einladungen zur ihr nach Hause, sagt Helene Wagner, sind ein Problem. Die meisten ihrer Verwandten sind Autofahrer. Sie wohnen auf dem Land, wo es viele Autobahnausfahrten, aber keine gute Zuganbindung gibt. Für sie ist es lästig, in die Messestadt zu kommen. Das war es dann aber auch schon, mehr Nachteile fallen Wagner nicht ein. Echt nicht?
Zweite Erkenntnis: Missionieren bringt wenig
Ganz ohne Auto leben auch die Menschen im autofreien Wohnprojekt nicht. In der Tiefgarage stehen mehrere Fahrzeuge von Stattauto. Der Carsharing-Anbieter unterstützt das Wohnprojekt seit den Anfängen. Wenn Helene Wagner also doch einmal ein Auto braucht, plant sie die Fahrt und bucht einen Leihwagen. Denn eigentlich fährt Helene Wagner gern Auto. Aber sie findet Autos teuer. Und zeitaufwendig. Und gefährlich. Alle neun Minuten passiert in München ein Unfall. Dazu kommt die Parkplatzsuche, kommen Reparaturen, und kommt das schlechte Gewissen, wenn man an die Umwelt denkt; daran, dass ein Mittelklassewagen im Schnitt 180 Gramm Kohlendioxid pro Kilometer ausstößt, daran, dass Anwohner, Radfahrer und Fußgänger täglich Feinstaub aus den tonnenschweren Geländewagen einatmen müssen, und daran, dass diese Erde endlich ist.
Helene Wagner wirkt nicht so, als wollte sie andere missionieren, auch, wenn sie immer wieder diese Gespräche führt. Eigentlich super, sagen die Leute, wenn sie hören, wie Helene Wagner mit dem Fahrrad oder der U-Bahn durch den Tag rauscht, wenn sie hören, dass bei Helene Wagner kein Erstwagen, kein Zweitwagen, kein Firmenwagen, einfach gar kein Auto vor der Tür parkt. Ich würd' meins ja auch gern öfter stehen lassen, sagen die Menschen dann, aber ich brauch' es halt. Geht so schwer ohne. Die weite Strecke zur Arbeit, mit der S-Bahn dauert es viel länger, und dann ist die auch noch immer überfüllt, und die Einkäufe, und die Kinder zur Kita in der Früh, also nein, bei euch geht das vielleicht, aber bei uns nicht.
Nachfrage, was antworten Sie dann, Frau Wagner? "Viele bräuchten ein bisschen Unterstützung", sagt sie. Und sei es nur durch günstigere Tickets für Zug und U-Bahn. Gunhild Preuß-Bayer sagt: "Selbst wer bereit wäre, aufs Auto zu verzichten, steigt nicht von einem Tag auf den anderen um."
Dritte Erkenntnis: Den autofreien Ring immer weiter ziehen
Der Marienplatz und einige umliegende Straßen in der Münchner Innenstadt sind bereits autofrei, zuletzt wurde die Sendlinger Straße zur Fußgängerzone. Was wäre, wenn man den Kreis von hier aus immer weiter ziehen würde? Wenn man irgendwann auch Stachus und Odeonsplatz, Sonnen-, Frauen oder Leopoldstraße für den Verkehr sperren würde? Die Münchner könnten nach und nach ihr Verhalten anpassen, neue Strecken finden, sich daran gewöhnen, letztlich: das Auto stehen lassen.
Dass man autofreie Zonen nach und nach ausweiten kann, haben die Autoren einer wissenschaftlichen Studie im Auftrag der EU-Kommission schon im Jahr 2004 ermittelt. Es ist ein wenig wie mit den Fußgängerzonen: In der Nachkriegszeit gab es daran viel Kritik - bis die Stimmung irgendwann kippte. Inzwischen hat fast jeder Ort, der etwas auf sich hält, eine autofreie Einkaufsmeile.
Vierte Erkenntnis: Eine klare politische Haltung ist wichtig
Die Autoren der EU-Fallstudie sagen, die Stadtverwaltung müsse vor allem zwei Dinge tun. Erstens die Ausweitung autofreier Zonen radikal durchziehen, ohne Ausnahmen. Und zweitens den Dialog suchen mit allen Betroffenen, den Autofahrern, den Radfahrern, den Geschäftsleuten. Sie müsste Umfragen machen, Schadstoffwerte und Stauzeiten messen, davor und danach. Argumente finden und diskutieren. Eine klare politische Haltung zeigen.
Denn die bisherigen autofreien Projekte wie in der Messestadt Riem funktionieren, weil sich die Menschen freiwillig dafür entschieden haben. Ihre Motivation ist groß, dass ihr Stadtviertel autofrei bleibt. Und vielleicht ist auch die komplett autofreie Stadt nur dann möglich, wenn die Menschen es wirklich wollen.
Autofreie Stadt: SZ Utopie Folge 2:Münchner Freiheit
Marie wacht auf, die Vögel zwitschern. Dort, wo früher SUVs durch die Straßen gedonnert sind, pflanzen Menschen Blumen an. Eine fiktive Reise durch das autofreie München. Folge 2 des neuen Formats "SZ Utopie".
Der erste Schritt sei es immer, die Alternativen zu stärken, sagt Rolf Moeckel, der Technischen Universität München zu Verkehrs- und Flächennutzungsmodellen forscht. Also: Den öffentlichen Nahverkehr ausbauen. Autofrei kann eine Stadt nur werden, sagt Moeckel, wenn sie ein leistungsstarkes Verkehrssystem hat, in dem alle Stadtteile angebunden - und nicht manche Gegenden nur mit einem Bus erreichbar sind, der alle zwanzig Minuten fährt. "Wir haben das Auto lieb gewonnen, es erscheint uns so komfortabel - das geben die Leute nicht durch bloßes gutes Zureden auf."
Fünfte Erkenntnis: Es braucht Verbote und Anreize gleichermaßen
Wer sich die Entwicklung in anderen europäischen Städten ansieht, der merkt: Es tut sich viel. Kopenhagen setzt erfolgreich auf Radschnellwege. Paris holt sich Fußgängerwege zurück, wo zuvor Parkplätze waren. Und Oslo plant so ambitioniert wie kaum eine andere Stadt. Bis 2019 soll der Privatverkehr komplett aus der Innenstadt verbannt sein. Parkplätze werden reduziert, bestimmte Strecken sollen nur noch für Elektroautos befahrbar sein. Zugleich hat sich die Osloer Stadtverwaltung verpflichtet, den öffentlichen Nahverkehr auszubauen, 60 Kilometer neue Radwege zu schaffen. Es geht nicht nur darum, die Abgase zu senken - vielmehr soll die Stadt lebenswerter werden, mehr Platz für die Menschen bieten.
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Die bisherigen Erfahrungen zeigen, sagt Rolf Moeckel, dass es die Mischung macht: Schafft man ausschließlich Anreize, werden diese nur schwach angenommen; Verbote dagegen wollen die wenigsten sofort akzeptieren. Was in Verkehrssimulationen am besten funktioniert, seien Modelle, die es den Autofahrern schwerer machen, allen anderen etwas einfacher. Moeckel denkt an Strategien, die eine Autofahrt verlangsamen - durch schmalere Straßen, durch Hubbel in Tempo-30-Zonen oder künstliche Kurven. Er denkt auch an Strategien, die das Autofahren teurer machen - durch eine City-Maut, teure Parkplätze, eine höhere Benzinsteuer oder eine Steuer auf gefahrene Kilometer.
Allerdings könnte der Preiseffekt ausgerechnet in München erst spät Wirkung zeigen, sagt Moeckel - weil die Stadt so wohlhabend ist. Diskutiert wird in der Forschung daher auch, ob man die Höhe der Parkgebühren vom persönlichen Gehalt abhängig macht. "Diejenigen mit einem hohen Einkommen reagieren sonst gar nicht auf eine Preissteigerung, während es die mit niedrigem Einkommen besonders trifft", sagt Moeckel.
Auch Radschnellwege sollen den Verkehr auffangen, der nicht mehr mit dem Auto geschieht. Vor allem in Gegenden, in denen Fahrradfahren sowieso beliebt ist, funktioniert das gut, sagt Mobilitätsforscher Moeckel. Auch in Deutschland steigen viele Leute vom Auto aufs Rad um - und doch spricht das Fahrrad nur einen bestimmten Teil der Bevölkerung an: Eher ökologisch orientierte Menschen, die keine emotionale Bindung zu einem Auto pflegen. Käme ein Autoverbot, gäbe es wohl massiven Widerstand - am Ende aber finden die Menschen, so die Utopie, ihre Stadt schöner. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand demonstriert, um eine sechsspurige Straße zurückzubekommen", sagt auch Helene Wagner aus Riem.
Dass Visionen Zeit brauchen, sieht man an einer Umfrage aus dem Jahr 1964. Damals wollte die Süddeutsche Zeitung von Stadtplanern, Stadtbauräten und Bürgermeistern wissen, wie sie sich München im Jahr 2000 vorstellen. Die Antwort: Zahllose U-Bahnen gleiten in einem dichten Netz lautlos unter der Stadt hindurch, Autos verschwinden am Rand der Stadt in Parkgaragen. Die Menschen bummeln ungestört durch die Innenstadt, verweilen nach Lust und Laune und erinnern sich mit Schaudern an die Zeiten der lärmenden und stinkenden Automobile und der endlos langen Verkehrsstaus.
Ganz so ist es dann doch noch nicht gekommen. Es wird, wenn überhaupt, noch ein paar Jahre dauern.