Architekturspaziergang:Im Fell des Löwen

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Mehr als 2000 Wohnungen wurden am Ackermannbogen gebaut, Hunderte Arbeitsplätze sind entstanden, alles wurde am Reißbrett entworfen. (Foto: Catherina Hess)

Das Oberwiesenfeld ist auf hinreißende Weise normal: Hier kann man den Münchnern beim Einfach-Sein zusehen - und sich fragen, was das alles mit dem König der Tiere zu tun hat.

Von Bernhard Hiergeist (Texte) und Catherina Hess (Fotos)

Wäre München ein Löwe, dann wäre die Altstadt der Kopf, Schwabing vielleicht die Mähne, das Glockenbachviertel entspräche den mal verspielt, mal aufgeregt zuckenden Krallen. Und das Oberwiesenfeld? Da wird es schon schwieriger. Viele kennen das Oberwiesenfeld nur als Namen einer Station der U3. Doch der Begriff bezeichnet tatsächlich ein Areal im Münchner Norden, das Milbertshofen, Schwabing und Neuhausen unter sich aufteilt. Der Biedersteiner Kanal, der an seiner breitesten Stelle Olympiasee heißt, fließt einmal quer hindurch.

Vielmehr muss man sagen: Der Begriff bezeichnet einen etwa dreieinhalb Quadratkilometer großen weißen Fleck, denn kaum jemand weiß etwas über das Oberwiesenfeld. Und sogar wenn man Anwohner fragt, haben die oft Schwierigkeiten, die besonderen Landmarken ihres Viertels zu nennen. Also abgesehen von Olympiapark und -stadion, aber wirklich daneben wohnt da ja niemand. Das ganze Stadtgebiet erinnert ein wenig an eine Zufallsbekanntschaft auf einer Party. Man lacht miteinander, man trinkt, man unterhält sich gut - aber hinterher kann man sich partout nicht mehr daran erinnern, wie das Gegenüber ausgesehen hat.

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Mit ein bisschen Unterstützung könnte es jedoch gelingen: Auf dem Oberwiesenfeld übte seit dem 18. Jahrhundert die bayerische Artillerie das Schießen, später hoben hier Zeppeline ab und noch später Flugzeuge. Die Gegend ist geprägt von alten Militärgebäuden, zumindest wenn sie noch stehen. Denn aus Militärgebäuden wurden im Zweiten Weltkrieg militärische Ziele, die die Alliierten bevorzugt bombardierten. Nach dem Krieg war dann viel Platz für Wohngebäude, darunter auch viele Plattenbauten. Das Zweckmäßige stand im Vordergrund, weniger die Ästhetik.

Wäre München also ein Löwe, Symbol für den Freistaat und seine Landeshauptstadt, was wäre dann das Oberwiesenfeld? Nun, es wäre vielleicht das Fell. Es wärmt in der kalten Nacht, es taugt als dekorativer Wandbehang. Aber es ist halt auch nichts besonderes. Denn das Besondere hat sich immer woanders abgespielt. Geschichte wurde immer woanders geschrieben. In der Schleißheimer Straße wohnte einmal ein Russe, bevor er sich Lenin nannte und in Russland eine Revolution anzettelte. In den 1920er Jahren spielte der FC Bayern im alten Stadion des FC Teutonia München, bevor er ein großer Verein wurde. Und wann landete der britische Premier Chamberlain 1938 auf dem Militärflugplatz Oberwiesenfeld? Natürlich bevor er dann in der Innenstadt über das historisch wichtige Münchner Abkommen verhandelte.

Andererseits sollte man im Hinterkopf behalten: Das Fell des Löwen mag nicht spannend sein. Aber das Fell ist in gewisser Hinsicht elementar. Ohne das Fell würden Organe und Knochen einfach herauspurzeln aus dem Tier, mithin wäre der Löwe als solcher nicht überlebensfähig. Genauso verhält es sich mit München: Eine Stadt, die nur aus Rathaus und vier Stadttoren besteht, wäre eben keine Stadt. Um zu funktionieren, braucht sie Viertel, in denen sie sich nicht für Touristen präsentiert, sondern einfach nur ist. Viertel, die alles zusammenhalten.

Am Oberwiesenfeld kann man die Münchner beim Einfach-Sein beobachten. Beim Joggen im Park, beim Kleingärtnern, nicht zuletzt: beim Wohnen. In kaum einem anderen Viertel lässt sich die Geschichte des Wohnens in der Stadt so gut nachvollziehen wie hier. Der Weg führt vorbei an Wohnungen von Baugenossenschaften aus dem frühen 20. Jahrhundert, an Plattenbauten, an einer geschlossenen Luxus-Anlage, bis hin zur kleinen Quartierstadt am Ackermannbogen. Am Oberwiesenfeld sieht München stellenweise eher aus wie die südlichste Stadt Dänemarks als die nördlichste Italiens.

Natürlich ist hier weniger Barock, weniger Jugendstil, ja vielleicht sogar weniger Stil. Aber wer sagt, das sei nicht spannend, der sollte auch dazusagen: Es ist elementar und auf hinreißende Weise normal. Es führt den Blick weg von der Architektur, hin zum Menschen, der sich in diesem so stark bebauten Viertel seinen Weg bahnt wie ein Löwenzahn. Und es soll Leute geben, die sogar gerne hier leben, in dieser schwer zu fassenden Zufallsbekanntschaft von einem Stadtviertel. Mag man das glauben? Unbedingt. Es soll schon vorgekommen sein, dass zwei zwar nur aus Zufall ins Gespräch kamen, aber sich dann doch verliebt haben. Und am Ende fragt ja dann auch niemand mehr nach dem Wie und Warum.

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1. Stadtarchiv

Warum es sich lohnt innezuhalten: Wenig strahlt in der deutschen Sprache eine derartige Monotonie und Biederkeit aus wie das Wort "Stadtarchiv". Dabei ist das natürlich in hohem Maße unfair. Denn eigentlich geht es drinnen höchst spektakulär zu. Die Regalwände im Münchner Archiv sind 20 Kilometer lang. Darin lagern Millionen Fotografien, Zehntausende Bücher und Dokumente, darunter mehr als 2000 Urkunden aus dem Mittelalter. Und sie sind zugänglich: Denn jeder Bürger kann ins Stadtarchiv gehen und sich Material aus dem Bestand bringen lassen. Wer das nicht möchte, kann sich den wuchtigen Gegenpol zum Nordbad von außen ansehen. Zur Schleißheimer Straße hin stehen der Erweiterungsbau von 1990 und eine dreiteilige Kunstinstallation. Von der Winzererstraße her sieht das Gebäude mit dem kleinen Portalvorbau dagegen noch aus wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

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2. Prinz-Leopold-Kaserne

Warum es sich lohnt innezuhalten: Die bayerische Artillerie nutzte das Oberwiesenfeld schon seit dem 18. Jahrhundert als Übungsplatz. Davon zeugen heute noch zahlreiche alte Militärgebäude. Im Bereich der Winzererstraße etwa stand die Prinz-Leopold-Kaserne. Als die ersten Soldaten einzogen, war sie eine der modernsten in Bayern. Schon 1902 verfügte sie über Wasser-, Gas- und Telefonanschlüsse, nur der Strom fehlte noch. Auf der Terrasse des schräg gelagerten Baus in der Winzererstraße 41 speisten früher Offiziere. In der Hausnummer 43 wohnten die unteren Dienstgrade. Die Unterkunft hier und das ehemalige Mannschaftsgebäude nebenan haben sogenannte Mansardwalmdächer, das heißt, die Dächer sind zu allen vier Seiten mehrfach abgeknickt. Für äußerst Gehmüde gibt es jetzt bereits eine Gelegenheit zur Einkehr: gegenüber im "Waldorf's", einer Boazn und "Weihrauch-Oase" mit eigenen Kunstausstellungen.

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3. St. Sebastian

Warum es sich lohnt innezuhalten: Kurz nach dem Wirtshaus am Oberwiesenfeld geht es rechts in die Ackermannstraße, bis hin zur Kirche St. Sebastian. Der Klinkerbau im Stil der Neuen Sachlichkeit wurde 1929 geweiht und steht heute unter Denkmalschutz. Ebenfalls unter Denkmalschutz stehen die umliegenden Wohnbauten an der Karl-Theodor-Straße. Auch sie stammen von den Architekten Eduard Herbert und Otho Orlando Kurz. Die Bürogemeinschaft erlangte in München etliche Bauaufträge. So zeichnen sie auch für den Wohnblock am Steubenplatz, den "Amerikanerblock" verantwortlich. Die Kirche St. Sebastian wurde jedoch bei einem Luftangriff im Zweiten Weltkrieg fast komplett zerstört. Heute steht noch eine vereinfachte Rekonstruktion. Die katholische Pfarrei ist mit fast 9000 Gläubigen die größte im Dekanat München und die viertgrößte der Diözese München und Freising.

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4. Gated Community

Warum es sich lohnt innezuhalten: München ist eine sehr sichere Großstadt. Wozu braucht es also eine sogenannte gated community, eine Art geschlossenen Wohnkomplex? Man kennt diese Anlagen aus anderen Städten, größeren Städten, gefährlicheren Städten. Aber München? Wie dem auch sei, so ein Zaun ist ja auch nicht verkehrt. Zumindest, so sang das einmal ein Künstler namens Stoppok, "wenn er nicht zu hoch ist und keinen dabei stört, den Nachbarn zu besuchen oder mal zu schau'n". Schau'n ist bei der Community zwar schwierig (sie ist ja gated). Durch Lücken in Zaun und Grün kann man aber einen Blick auf den Innenhof erhaschen. Interessant ist auch die Umgebung: Direkter Nachbar der Wohnanlage ist eine Schrebergartensiedlung. Dazwischen führt ein kleiner Weg hinein in den Olympiapark. Für Kinder interessant: Bald kommt man dann auf eine Wiese mit einem Spielplatz - dort ist ein Krokodil vergraben.

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5. Quartier am Ackermannbogen

Warum es sich lohnt innezuhalten: "Da gibt es Stahlhäuser und solche aus Holz oder Beton. Es gibt Reihenhäuser und Wohnriegel. Es gibt Stadtvillen und Öko-Häuschen. Was fehlt: eine Ordnung." So stand das einmal in dieser Zeitung über das Quartier am Ackermannbogen und es stimmt natürlich auch. Dem kann man entgegnen: Braucht München zurzeit wirklich geordnete und charmante Stadtviertel? Könnte man einen Bürgermeister für voll nehmen, der so etwas fordert? Nur mit Mühe. Stattdessen kann man sich ins Café "Rigoletto" setzen oder vor das "Fami" und bilanzieren: Mehr als 2000 Wohnungen wurden hier gebaut, Hunderte Arbeitsplätze sind entstanden, alles wurde am Reißbrett entworfen. Aber es hat funktioniert: Die Menschen haben das Quartier zum Leben erweckt. Am Ackermannbogen hat sich eine eigene kleine Stadt in der Stadt entwickelt.

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6. Barbarasiedlung

Warum es sich lohnt innezuhalten: Die Barbarasiedlung ist nicht so lebhaft wie das Quartier am Ackermannbogen, dafür aber architektonisch widerspruchsfreier. Die kleine Gartenstadt ist einheitlich im sogenannten Heimatschutzstil gebaut. Heimatschutz in der Architektur bedeutete, ländliche Traditionen zu betonen, dabei aber lokale Besonderheiten nicht aus dem Blick zu verlieren. Früher wohnten auf dem dreieckigen Areal an der Barbarastraße militärische Bedienstete mit ihren Familien. Vorgärten reihen sich an Vorgärten und Hexen- an Fachwerkhäuschen. Vor allem für Kinder könnte es spannend sein, zu überlegen, welche Märchengestalten wohl in den Häusern leben und dort Heil oder Unheil anrichten. Erwachsene dagegen werden sich ärgern: darüber, dass die Häuschen nie auf Immobilienportalen zur Miete ausgeschrieben sind. Von der Anlage aus kann man auch einen kurzen Abstecher zur Hallenkirche St. Barbara machen.

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7. Neues Justizzentrum

Warum es sich lohnt innezuhalten: An der Ecke Dachauer/Schwere-Reiter-Straße wird sich in den kommenden Jahren einiges verändern. Hier baut Bayern ein neues Strafjustizzentrum. Mehr als 1000 Staatsbedienstete sollen hier arbeiten. Man erinnert sich: Beim NSU-Prozess war der Saal zu klein, der internationale Skandal groß. So ein Fehler passiert uns nicht mehr, dachte man sich da im Freistaat: 54 Säle wird es dort geben, der große Verhandlungssaal wird alleine schon 300 Quadratmeter groß sein. Bevor der Spaziergang zu Ende ist, kann man sich noch am Leonrodplatz das Eckhaus an der Leonrodstraße 91 ansehen. Es ist ein Werk der Architektin Rosa Barbist - 1908 war das äußerst ungewöhnlich. Dann kann man zur Belohnung einen Kaffee nehmen. Oder weiterlaufen ins Kreativquartier. Oder rein, nach Neuhausen und das Haus mit der Bärenstatue suchen. In München wollen ja genügend Ecken entdeckt werden.

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