Sexuelle Belästigung:Ein Trainingscamp für "Hasis"

WDR in Köln

Sexuelle Belästigung junger Frauen stand der Karriere des WDR-Mitarbeiters nicht im Weg.

(Foto: picture alliance / dpa)

Ein WDR-Korrespondent soll jahrelang junge Frauen sexuell belästigt haben, die er in einem von ihm veranstalteten Seminar traf. Der Spitze des öffentlich-rechtlichen Senders war das bekannt. Eine Reaktion blieb aus.

Von Ulrike Schuster

Das Seminar kannst du nicht beschreiben, das Seminar kannst du nur fühlen. Es gebe dort so eine besondere Atmosphäre, beschreibt es der Leiter des Seminars dem Mitarbeiter einer Lokalzeitung. Doch was sich für den Mann als "besonders" anfühlte, empfanden viele, vor allem junge Frauen, als reichlich "schräg".

Die Interview-Übung zum Beispiel: Zwei Teilnehmer des Seminars zeigten den anderen in der Gruppe, in welche Richtung die Fragen des "personenzentrierten Interviews" in den Zweiergruppen gehen sollten: Hast du einen Freund? Worauf stehst du im Bett? Gehst du fremd? Rasierst du dich? - möglichst intime Dinge zu entlocken war das Ziel. Je provokanter das Thema, desto besser lasse sich das Fragenstellen üben, erklärte der Seminarleiter.

"Er lag dabei im Bett, ich saß ihm auf der Matratze gegenüber"

Die Themenblöcke lauteten Sex, Treue, Körperhygiene und Tinder, die Dating-App. Die Interviews ließ er aufnehmen, um sie später im Vier-Augen-Gespräch zu analysieren. "Er lag dabei im Bett, ich saß ihm auf der Matratze gegenüber", erinnert sich eine Teilnehmerin, "eine schräge Situation." Das war 2013, die Frau 19 Jahre alt, er über 50.

Der Leiter des Seminars ist der Mann, über den Stern und correctiv.org vor zwei Wochen berichtet haben, sie nannten ihn "Alphatier", es war der Auftakt der "WDR-Affäre". Nach ihm wurden noch zwei weitere WDR-Männer bekannt, denen sexuelle Belästigung im Sender vorgeworfen wird.

Alle drei Männer haben eines gemeinsam: Sie haben Karriere gemacht. Im Fall von "Alphatier" haben die WDR-Spitzenleute seit den Neunzigerjahren von den Gerüchten gewusst, dass er Kolleginnen belästigt haben soll. 1991 soll es einen Eintrag in seine Personalakte gegeben haben, weil sich eine junge Kollegin beschwert hatte, dass sie das Bett mit ihm teilen musste. Er hatte auf einer Dienstreise ein Doppelzimmer gebucht, um dem WDR Kosten zu sparen, begründete er das.

Vorgesetzte mussten die Nebentätigkeit im Seminar absegnen

Dass der beschuldigte Korrespondent damals ein Seminar für Nachwuchsjournalisten gründete und leitete, störte offenbar niemanden. 28 Jahre störte es nicht. Dabei muss jeder Mitarbeiter des WDR für eine Nebentätigkeit eine Erlaubnis einholen, unterschrieben von den Vorgesetzten. Nebentätigkeitsanträge müssen "durch die ganze Hierarchie gehen" und "für jedes Projekt neu beantragt werden", bestätigte der Sender dem Spiegel. Eine Nebentätigkeit war es, rund 3000 Euro soll er pro Seminar verdient haben, seine Frau 1000 Euro, gemeinsam haben sie das Journalistenseminar geleitet.

So erzählt es Rainer S., ehemaliger Berufsberater der Arbeitsagentur, der Süddeutschen Zeitung. Die bezuschusste das Seminar mit 2000 Euro jährlich, den Rest bezahlten die Teilnehmer mit ihren Beiträgen.

"Das Seminar war nicht nur dafür da, um jungen Frauen Lust auf Journalismus zu machen", sagt Patricia, 30, die eigentlich anders heißt, aber anonym bleiben möchte. Sie wolle nicht, dass ihr die Sache ewig nachhängt. "Das Seminar war auch sein Casting-Camp, in dem er die jungen Frauen kennenlernte, um sie sich später ins Auslandsstudio zu holen." Sie sagt auch: "Es ist seltsam, dass sich im WDR niemand wunderte, dass so viele Praktikantinnen aus dem Seminar kamen."

"Das Seminar war auch sein Casting-Camp"

Das zehntägige Seminar veranstaltete der Korrespondent in einer Hütte des Alpenvereins, in einer 750 Einwohner-Stadt. Jedes Jahr nahm er sich dafür Urlaub. Das Trainingscamp "für den geilsten Beruf der Welt" - so lautete einer seiner Lieblingssprüche - richtete sich an Schüler ab der elften Klasse und an Studenten. 17 Teilnehmer wählte er dafür jeweils aus, in kaum einem der Jahrgänge waren mehr als drei Männer. Ihnen machte er vor, was Traumberuf Journalismus heißt: 18 Stunden Arbeit - Recherche, Interviews, Live-Schalten. Auch einen Vortrag über Ethik und Moral hielt er, sagte, wer auf der guten, wer auf der bösen Seite stehe, hier der WDR, dort die Bild-Zeitung. Er machte den Teilnehmern klar, was Karriere sei: sein Weg. Um dort anzukommen, gab er ihnen einen Zehn-Punkte-Plan: das richtige Studium, die richtigen Praktika, das richtige Volontariat. Er zeigte, was das Ziel sei: die Spitze. Und er präsentierte ein Beispiel: sich selbst.

Rainer S., der Berufsberater der Arbeitsagentur, leitete 25 Jahre das Seminar mit, heute ist er im Ruhestand. Früher war er auch "der beste Freund" des Korrespondenten, so habe der ihn bezeichnet. S. habe das umgekehrt nie behaupten wollen, sagt er, mit einem Freund müsse man unbedarft sein können, das konnte er mit ihm nie. "Er denkt durch und durch strategisch", sagt S., "beim Bier am Tresen ist er noch Machtmensch."

Abendessen, später in Bars - und dann ins Hotelzimmer

Patricia nahm vor sechs Jahren am Seminar teil. Ein Jahr später lud er sie zum Praktikum ins Auslandsstudio ein, die Bewerbung solle sie "pro forma" schicken, so sagte er es laut ihrer Schilderung. "Er ließ nie einen Zweifel daran, wie wichtig Kontakte sind, um Karriere zu machen und dass es jemanden braucht, der die Türen öffnet", sagt sie. Dass er derjenige sein kann, der die Türen öffnet, habe er ihr klar gemacht. Dass sie ihm entgegenkommen müsse, sei ihr ebenso klar gewesen.

Sie habe das Spiel mitgespielt, sagt sie, ging mit ihm abends essen, später am Abend in Bars, habe mit ihm über Sex geredet, ist in sein Hotelzimmer gegangen, als er rief, hat ihn in seiner Villa besucht, als er rief. Als er ihr die Hand auf die Schulter legte und näher rückte, sei sie jedes Mal gegangen, erzählt sie. Zum ersten Mal im Leben sei da ein Mann gewesen, der ihr Vorbild und Mentor sein wollte. "Ich habe ihm vertraut", sagt sie heute. "Das war naiv. Ich war auf der Suche." Denkt sie an das Seminar zurück, denkt sie an Journalismus, aber auch an einen Pool von "Hasis", so soll er sie und andere Praktikantinnen später genannt haben.

Angelika, die auch anonym erzählen will, war als Schülerin vor ein paar Jahren im Seminar, als Praktikantin im Korrespondentenstudio war sie nach dem Abitur. Gleich am ersten Abend sagte ihr der Korrespondent, sie sei verklemmt, so ganz anders als ihre Vorgängerinnen, die seien locker gewesen. Sie habe sich schuldig gefühlt, sagt sie. Oft habe er von Sex geredet, stets seine offene Beziehung betont und Treue als überbewertet bezeichnet. Sie sei jung, sie müsse sich austoben.

Wer nicht spurte, bekam ein schlechtes Zeugnis

Öfters habe er sie ins Hotel eingeladen, einmal sei sie darauf eingegangen, in seiner Suite habe er auf die Wanne gezeigt, sie gefragt, ob sie nicht ein Bad nehmen wolle. Das wollte sie nicht. Erst in seiner Villa nach dem Abendessen mit ihm, seiner Frau und den Kindern, ging sie mit dem Korrespondenten baden. Zu zweit spielten sie Wasserball im Pool. Sie war damals 18. Dass er so "die ein oder andere Türe aufmachen kann" und er den späteren Praktikantinnen bei der Karriere helfen wird, das sei ihr bereits im Seminar klar geworden.

Außer man war nicht nett. Frieda, auch sie will ihren Namen nicht nennen, war 19, als sie Praktikantin war. Sie ist nicht mit ihm um die Häuser gezogen, hat nicht mit ihm über Sex geredet, hat die Einladung zu ihm nach Hause abgelehnt. Das Praktikum durfte sie beenden, das Zeugnis selbst schreiben, "wie alle die anderen", bloß musste sie ihres nach unten korrigieren, musste die "sehr gut Bewertungen" aus ihrem Zeugnis löschen. In Zukunft könne er nichts mehr für sie tun, sagte er ihr.

WDR-Kollegen als "Überraschungsgäste" zum Alumni-Abend

Im Moment will der Korrespondent gar nichts sagen, mehrfache Anfragen der SZ blieben unbeantwortet. Dem Spiegel ließ er mitteilen, dass die Schilderungen "nicht den Tatsachen entsprechen". Zu den Interview-Übungen erklärte er, die Teilnehmer hätten lernen sollen, "sich in schwierigen Interview-Situationen zu behaupten". Das Seminar für 2018 wurde nun abgesagt, die Arbeitsagentur soll die Zuschüsse für dieses Jahr eingefroren haben, vorher mussten er und seine Frau die Leitung abgeben.

Seitdem versucht das übrige Leiter-Team sich "einen Überblick zu verschaffen". "#MeToo im Seminar", hieß es in einer ersten Mail an die Alumni, drei Tage nachdem Stern und correctiv.org die Vorwürfe öffentlich gemacht hatten. Man wolle wissen, was seit 1990 passiert ist, ob es auch "im Umfeld des Seminars Fälle von sexueller Belästigung durch den Korrespondenten gab: Wer von etwaigen Grenzüberschreitungen wisse, vielleicht unter Druck gesetzt wurde, wem mutmaßlich berufliche Unterstützung gegen Gefälligkeiten angeboten wurde, solle sich melden. Einen unabhängigen und professionellen Ansprechpartner wolle man organisieren.

Für Fragen zum Seminar sieht sich der WDR nicht zuständig

Hätte der Sender genauer hinschauen müssen, nachdem es schon in den 90ern Vorwürfe gegeben hatte? Jörg Schönenborn, Fernsehdirektor des WDR, hatte auf Anfrage des Spiegel in der vergangenen Woche bekannt, dass er von den Gerüchten "aus der Zeit um 1990" wusste, und sie in seiner Zeit als Chefredakteur ab 2002 "intensiv" geprüft habe. Allerdings ohne Ergebnis.

Also entzog er dem Korrespondenten in den vergangenen 16 Jahren nicht die Erlaubnis, das Nachwuchsseminar abzuhalten. Was nebenbei passierte, interessierte nicht. Für Fragen zum Seminar solle man sich bitte an die Organisation des Seminars wenden, sagte eine Sprecherin des Senders der SZ. Zwischen dem WDR und dem Seminar mangele es an einer Verbindung.

Ex-Seminarteilnehmer aber wurden nicht nur WDR-Praktikanten und Redakteure, WDR-Kollegen kamen auch als "Überraschungsgäste" zum Alumni-Abend, wie sich Teilnehmer erinnern. Johannes Kaul, der Chef des Morgenmagazins, war in den 90er Jahren da, WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich 2011, der letzte Gast war Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni im vergangenen Jahr, als "alten Freund von mir" kündigte ihn der Korrespondent in einer Mail vom 21. Juli 2017 an. Weder er noch Chefredakteurin Sonia Mikich waren bereit, über das Seminar zu sprechen, Anfragen blieben unbeantwortet.

"Wir können MeToo nur dankbar sein"

Jörg Schönenborn hätte mit dem Wissen von heute damals andere Entscheidungen getroffen, sagte er dem Spiegel vor einer Woche. Intendant Tom Buhrow verkündete am vergangenen Mittwoch ein "Paket von Sofortmaßnahmen", aktive Führungskräfte sollen "zusätzlich geschult und sensibilisiert" werden. Chefredakteurin Sonia Mikich schreibt in einem Brief an ihre Kollegen vom 12. April: "Wir können MeToo nur dankbar sein." Den Ehrgeiz, sexuelle Belästigung aufzuklären und das Risiko von Machtmissbrauch zu minimieren, sollten alle nicht verlieren

Den Ehrgeiz über Korrespondent "Alphatier" aufzuklären, hatte eine ehemalige Praktikantin schon 2016. Sie beschwerte sich beim WDR, aber der ging mit sexueller Belästigung und Machtmissbrauch nicht so um, wie sie es für einen öffentlich-rechtlicher Sender als anständig empfunden hätte: der Korrespondent war weiter gelegentlich in der Tagesschau zu sehen und wurde zur Vertretung ins Auslandsstudio geschickt. Als die Vorwürfe dann öffentlich wurden, war innerhalb von vier Tagen möglich, was juristisch ein Jahr lang unmöglich gewesen war - dem Korrespondenten die Verantwortung zu entziehen. Man stellte ihn frei.

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