Türkische Chronik (XXXIX):Bücherverbannung in der Türkei

Armenische Flüchtlinge in Syrien

Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich 1915 im heutigen Syrien. Bis heute ist Verleugnung in der Türkei auf allen Ebenen die gängige Strategie.

(Foto: Library of Congress/dpa)

Der Istanbuler Belge-Verlag publiziert seit 40 Jahren Bücher über den Genozid an den Armeniern oder Gräueltaten des Militärs. Jetzt hat die türkische Polizei viele davon konfisziert.

Von Yavuz Baydar

Als ich davon erfuhr, rief ich ihn gleich morgens an. Am anderen Ende der Leitung war ein älterer Herr um die 70, der als einer der mutigsten Tabubrecher der Türkei gilt. "Guten Morgen" sagte ich zu Ragıp Zarakolu, der mittlerweile in Schweden im Exil lebt. Sein Istanbuler Verlag, Belge, war am Abend zuvor einer Razzia unterzogen worden. "Ich befürchte, das sind keine guten Neuigkeiten, allerdings überrascht mich nichts mehr", erzählte er.

Die Polizei hatte seinen Assistenten Mehmet Ali Varış am Sonntagabend angerufen, er solle schnell zum Verlagshaus kommen, sonst müssten sie die Tür aufbrechen.

Ragıp vermutet, dass die Razzia wegen des lächerlichen Verdachts durchgeführt wurde, dass Belge angeblich Verbindungen zur terroristischen Untergrundbewegung DHKP-C unterhalte, der Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front. Die Polizei hatte das Varış gegenüber angedeutet.

Die Durchsuchung dauerte lange. Zwei Bücher standen offiziell auf der Liste der Polizei: "Die KCK Akte / Der globale Staat und die staatenlosen Kurden" und "Entscheidungen, schwerer als der Tod", beide von Mehmet Güler.

Als die Polizei mit der Durchsuchung fertig war, hatte sie 2170 Kopien verschiedener Publikationen des Verlags beschlagnahmt. Der Grund? "Sie haben alle hinten keine Banderole. Das ist gegen das Gesetz", kommentierten die Polizisten. Sie meinten damit ein Steuerlabel, das für Bücher vorgeschrieben ist.

"Hätten wir die Bücher verbrennen sollen?"

Varış erklärte ihnen, dass die Bücher alle vor Einführung dieses Labels erschienen waren und nur zur Archivierung im Büro aufbewahrt würden. "Hätten wir die Bücher verbrennen sollen?", fragte er. Keine Antwort. Die Polizisten nahmen sogar Bücher aus den Sechzigerjahren mit, die noch vom linken Vorgänger-Verlag ANT stammten, und verwiesen auf dieselbe Vorschrift.

"Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll", sagte Ragıp am Telefon. Er ist ein linksliberaler Intellektueller, ein einsamer Wolf. Besonders schmerzlich trifft ihn, mit welcher Wucht die Menschen nun wieder gegängelt und schikaniert werden, nachdem vor etwa zehn Jahren dank des EU-Reformprozesses leichtes Tauwetter in der Türkei angebrochen war.

Die Razzia am Sonntag fand just zum 40. Jubiläum des Belge-Verlags statt. Mittlerweile hat er mehr als 850 Bücher im Programm und wurde in all den Jahren 45 Mal wegen "subversiver Inhalte" vor Gericht gebracht.

Zarakolu und seine inzwischen verstorbene Frau Ayşenur hatten anfangs Bücher über Marxismus und die moderne europäische Linke veröffentlicht und sich oft den Zorn der Dogmatiker zugezogen. In den frühen Neunzigern traute sich der Verlag dann an das bestgehütete Tabu der Türkei: den Genozid an den Armeniern. Mit den Büchern zu diesem Thema leistete Belge Pionierarbeit.

Das Tabu im Umgang mit den Kurden

Der Verlag veröffentlichte wissenschaftliche Literatur wie die mehrbändigen Bücher des Genozidforschers Vahakn Dadrian, Vergine Svaslians Geschichten Überlebender, Franz Werfels "Die vierzig Tage des Musa Dagh", Wolfgang Gusts Dokumentensammlung des deutschen Auswärtigen Amts.

Die Veröffentlichungen forderten die Türkei massiv heraus, denn bis heute ist Verleugnung dort auf allen Ebenen die gängige Strategie. Je mehr Bücher Belge über ethnische Säuberungen während des Zusammenbruchs des Osmanischen Reichs veröffentlichte, desto massiver wurde der Verlag als Staatsfeind gebrandmarkt.

Der Tabubruch begann 1993 mit der Veröffentlichung von "Tabu Armenien. Geschichte eines Völkermordes" des französischen Historikers Yves Ternon. Es folgten Bücher über die Massaker an Aleviten in der Provinz Dersim und Werke von Georgios Andreadis über die Massenvernichtung von Griechen an der anatolischen Schwarzmeerküste.

"Daraufhin wurde Andreadis zur persona non grata erklärt. Sein Einreiseverbot dauerte über zwanzig Jahre bis zu seinem Tod." Yves Ternons Buch löste Entrüstung bei den Behörden und den extremen Rechten aus. Belge wurde immer weiter in die Isolation gedrängt. Die gesamte Linke ließ den Verlag im Stich. Laut Zarakolu war die fehlende Solidarität sehr schmerzhaft.

"Wenn man ein Menschenrechtsaktivist ist und die UN-Menschenrechtscharta gelesen hat, ist es eine Schande, nicht tätig zu werden", sagt Zarakolu, wenn man ihn nach seinem hartnäckigen Engagement befragt. "Für uns war es nie hinnehmbar, dass der Genozid an den Armeniern ein Tabu ist. Einige Intellektuelle bezichtigten einen auch der Besessenheit oder Weinerlichkeit, wenn man das Thema erwähnte. Für die Linken, unter ihnen sogar Armenier, war die Zukunft viel wichtiger."

Belge brach noch ein weiteres Tabu, die Immunität des Militärs, der Verlag veröffentlichte einen Bericht der Human Rights Watch über die Gräueltaten in kurdischen Dörfern in den Neunzigerjahren. "Wir zahlten einen hohen Preis dafür, aber bekamen vor dem Europäischen Gerichtshof recht. Belge half dabei, das Tabu im Umgang mit den Kurden zu brechen."

Jedes Gericht kann jedes Buch beschlagnahmen lassen - wie unter der Militärdiktatur

Belge sticht außerdem mit seinem Portfolio über die verlorene Geschichte asiatischer Minderheiten heraus. Eine unglaubliche Leistung, ein Ausdruck von intellektuellem Mut gegen alle Widrigkeiten - und ein stichhaltiger Grund, ins Kreuzfeuer zu geraten, sobald Gegenwind von Tyrannen weht. "Die Publikationsfreiheit ist in der Türkei gefährdet", schließt Ragıp.

"Seit dem letztjährigen Putschversuch wurden bereits 29 Verlage geschlossen und ihr Kapital beschlagnahmt. Das türkische Gesetz sieht eigentlich vor, dass Bücher, die nicht innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Erscheinen beschlagnahmt werden, Immunität erlangen und eine Anklage nicht mehr möglich ist. Jetzt kann jedes Gericht in der Türkei eine Beschlagnahmung anordnen. Dasselbe passierte während des Militärregimes in den Achtzigerjahren."

Er spricht leise weiter: "Ich befürchte, dass dieses Land niemals in der Lage sein wird, sich zum Besseren zu wenden. Das Glück suchen wir, das Unglück sucht uns."

Der Autor ist Journalist und Träger des European Press Prize. Er hält sich derzeit außerhalb der Türkei auf. Deutsch von Sofia Glasl.

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