Reaktionen auf den Brexit:"Dieses Referendum ist auf seine Weise so wichtig, als wären wir plötzlich im Krieg"

A British flag which was washed away by heavy rains the day before lies on the street in London

Großbritannien nach dem Brexit-Votum am Boden? Intellektuelle aus Großbritannien und Deutschland sind durchaus unterschiedlicher Meinung.

(Foto: REUTERS)

Die SZ hat Literaten, Künstler und Wissenschaftler gefragt, wie sie das Brexit-Votum bewerten. Stimmen zwischen Entsetzen und Triumph.

Richard Sennett

Das war ein Votum gegen Brüssel, nicht gegen Berlin - das sollten die Deutschen bedenken. Niemand im Brexit-Lager hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg beschworen. Ihr Land wird beneidet, nicht gefürchtet. Der große Fehler derjenigen, die für den Verbleib in der EU eintraten, war, dass sie den Wählern gesagt haben: Fürchtet euch! Während die Austrittsanhänger anführten: Seid unabhängig! Die schlimmsten Folgen werden die jungen Leute ausbaden müssen, besonders jene mit niedrigeren sozioökonomischen Bedingungen. Für sie wird es schwerer werden, Hypotheken für ihre Häuser aufzunehmen oder Kredite für die Hochschulausbildung zu bekommen. Als eingeschworener Europäer bedauere ich das alles vor allem deshalb, weil damit die Demontage des gemeinsamen europäischen Projektes beginnt, nicht nur innerhalb der Grenzen der EU.

Richard Sennett, geboren 1943 in Chicago, ist Soziologe und lehrt an der London School of Economics. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Zusammenarbeit" (Hanser Berlin Verlag).

Adam Thirlwell

Lange Zeit hatte ich das Gefühl, Europa sei mein Vaterland, nicht Großbritannien. Jetzt geht dieses Vaterland verloren. Dieses Referendum ist auf seine Weise so wichtig, als wären wir plötzlich im Krieg. Es ist das Symbol einer größeren Katastrophe - wie die Finanzkrise den Alltag der normalen Leute zerstört hat, und wie unser politischer Diskurs sich gegen jede Überprüfung der Wahrheit immunisiert hat. Die Aufgabe der Künstler ist jetzt, die Frage zu stellen "Wo ist die Macht angesiedelt?" - und sie dann zu beantworten.

Adam Thirlwell, geboren 1978, ist Schriftsteller und lebt in London. 2015 erschien sein Roman "Grell & Süß" (S. Fischer Verlag).

Wolfgang Tillmans

Vorgestern Abend hatte ich einen tieftraurigen Moment, als ich die Tate Modern verließ und nach Sonnenuntergang über die Millenniumsbrücke ging. Beide im Jahr 2000 eröffnet, beide Symbole einer neuen Offenheit. Es war ein neues London, das seit Beginn der Neunziger gebaut wurde, selbstbewusst in der Mitte Europas angekommen. Ich schaute auf den Himmel im Westen und mir wurde klar, dass dies der letzte Abend vor einer neuen Ära sein könnte. Dass ich heute nicht deprimiert bin, zeigt mir, dass meine Trauer der Ausbruch einer langen Ahnung war, die Tony Blair letztes Jahr formulierte. Er wollte seine Parteigenossen davon abhalten, den links-populistisch angehauchten Jeremy Corbyn zum Labourchef zu wählen. Seine Generation, so Blair, müsse völlig neu denken, denn das politische Klima sei Teil von etwas Größerem: "Dies ist eine große Aufwallung gegen die Ungerechtigkeit der Globalisierung, gegen Eliten, gegen die stumpfsinnige Art der Entscheidungsfindung in einer unvollkommenen Welt." Nun ist die erste Welle über eine dieser Institutionen hereingebrochen. Aber die Populisten greifen nicht das Übel an, sondern die Flüchtlinge, die UN, die EU. Die Festen unserer freien Weltordnung zu verteidigen, ist jetzt unsere Aufgabe. Wir sind noch die Mehrheit.

Der Künstler Wolfgang Tillmans, geboren 1968 in Remscheid, lebt in Berlin und London.

Martin Walker

Die Brexit-Abstimmung war ein Sieg der Vergangenheit über die Zukunft, der Alten über die Jungen, der weniger Geschickten über die Wendigen, die sich an das postindustrielle Zeitalter anpassen, der Sun und Daily Mail über den Guardian, der Nativisten über die Kosmopoliten, Kleinenglands über Großbritannien. Die Ursachen dafür liegen in der großen Rezession, die 2008 begann, aber auch in der großen Zuwanderung, die Großbritanniens im Ausland geborene Bevölkerung von 3,8 Millionen im Jahr 1993 auf heute 8,3 Millionen hat anwachsen lassen. Die Folgen werden schlimm sein, sicherlich für Großbritannien, vielleicht für England und sehr wahrscheinlich für jenes humane, vernünftige und demokratische Gebilde, das wir den Westen nennen.

Martin Walker, geboren 1947 in Schottland, ist Historiker und politischer Journalist. Zuletzt erschien von ihm "Eskapaden. Der letzte Fall für Bruno, Chef de Police" (Diogenes).

Matt Ridley

Der Brexit ist eine gute Sache, weil die EU Innovation erstickt. In den Fünfzigerjahren mag eine zentral planende, regionale Zollunion sinnvoll gewesen sein - als es noch keine Containerschiffe gab, keine Billigfluglinien und kein Internet, und bevor die Tarifpolitik der Welthandelsorganisation Geschäfte mit Australien und China so leicht gemacht hat wie mit Frankreich und Deutschland. Großbritannien wird aufblühen. Europas Bruttosozialprodukt hat sich erst jetzt auf den Stand vor der Finanzkrise zurückgeackert. Eben weil die Besessenheit, mit der die EU Währungen und Regeln harmonisiert, Innovation verhindert. So wurden wir in den digitalen Technologien abgehängt. In Europa gibt es keine Firmen, die es mit Amazon, Google, Apple und Facebook aufnehmen können.

Matt Ridley, geboren 1958, ist Bestsellerautor, Zoologe und Mitglied des House of Lords. Sein bekanntestes Buch ist "The Rational Optimist".

Konrad O. Bernheimer

Ob der Brexit Auswirkungen auf den Kunstmarkt haben wird, ist schwer vorauszusehen. Dass London als Zentrum des Kunstmarktes aber an Bedeutung verlieren wird, glaube ich nicht. Vielleicht ist sogar eher das Gegenteil der Fall. Paris ist als Zentrum des internationalen Kunsthandels viel zu provinziell geworden. Und Deutschland hat mit der Verabschiedung des Kulturgutschutzgesetzes gerade das Seine getan, damit es hier vorbei ist. Insofern wird London das Zentrum bleiben. Aber es wird neue Regelungen gebe, neue Umsatzsteuerbestimmungen, kurz: es wird alles eher komplizierter als einfacher.

Konrad O. Bernheimer, geboren 1950 in Venezuela, ist Kunsthändler. Im Jahr 2015 schloss er seine Galerie in München und konzentriert sich seitdem auf den Kunsthandel in London bei Colnaghi.

John Burnside

Obwohl ich auf ein gutes Ergebnis vertraut habe, saß ich die ganze Nacht wach, um den Fortgang des Referendums zu verfolgen. Anfangs sah alles danach aus, dass sich der gesunde Menschenverstand durchsetzen würde. Als klar wurde, dass das Brexit-Lager gewinnen würde, wurde mir buchstäblich schlecht. Nun ist vollends deutlich geworden, dass das lange schwelende Gespür für Ungerechtigkeit unter der englischen Arbeiter- und unteren Mittelklasse zu Gift geworden ist. Es verwundert mich, dass die Linke in dieser Frage die Deutungshoheit aus der Hand gegeben hat. Der Morgen wurde etwas leichter, als klar wurde, dass Schottland, Nordirland und ein großer Teil von London die hässliche Rhetorik und den Rassismus der Brexit-Befürworter abgelehnt haben: Wir wissen um die historischen Gründe hierfür, aber eines wurde klar: die englische Politik, die englische Kultur und jeder vernünftige Begriff von Identität oder Gemeinschaft im mittleren England sind in echter Gefahr. Heute fühle ich mich politisch, kulturell und emotional weiter so sehr als Europäer wie gestern. Ich bin zuversichtlich, dass ich daran festhalten werde.

John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist Lyriker und Romancier. Sein neues Buch "Wie alle anderen" erscheint im August (Knaus Verlag).

"Nach den Künsten wird gerufen, wenn der Karren schon im Dreck steckt"

Jeremy Adler

Die politische Entscheidung ist gefallen. Nun geht es darum, die kulturelle und wirtschaftliche Bindung zwischen Großbritannien und der EU soweit auszubauen, wie es die politische Situation erlaubt. Wir müssen uns nun mehr denn je an Europas Werte halten. Diese Werte bauen auf die englische Magna Carta auf und auf den Ideen der italienischen Renaissance, der französischen Revolution, der deutschen Aufklärung und der griechischen Demokratie. Mehr denn je müssen wir gemeinsam für Recht und Demokratie, für Freiheit und Toleranz arbeiten. Unsere großen Denker von Locke bis Rousseau, Kant und Havel bleiben vorbildlich. Ihr Projekt Menschlichkeit bleibt. Was die größten deutschen Dichter als die Liebe Hoffnung gepriesen haben, gilt es nun zu bewahren. Die europäische Integration ist unaufhaltbar. Sie lässt sich nicht durch politische Entscheidungen beirren.

Jeremy Adler, geboren 1947 in London, lehrte bis 2004 Deutsche Literatur am King's College in London.

Timothy Garton Ash

Ich war mein Leben lang Europäer. Dieser Tag war der schlimmste meines politischen Lebens. Für mich persönlich ist der 23. Juni 2016 fast so entsetzlich, wie der 9. November 1989 großartig war. Nun müssen wir Kraft sammeln, um zu verhindern, dass es quer durch Europa einen Domino-Effekt gibt, und damit es gelingt, dass England (Schottland ist längst auf einem eigenen Weg) eine liberale, offene europäische Gesellschaft bleibt und dass Europa sich weiter nach vorn bewegen kann.

Timothy Garton Ash, geboren 1955 in London, ist Historiker und Schriftsteller. Er lehrt Europäische Studien in Oxford. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Jahrhundertwende" (Carl Hanser Verlag).

Martin Roth

Was die Entscheidung für meine Arbeit als Museumsdirektor bedeutet, kann ich noch nicht sagen. Gerade haben wir - wie andere Institutionen auch - eine Email an alle Mitarbeiter geschickt, wie wir mit der neuen Lage umgehen. Aber viele Fragen lassen sich noch nicht beantworten. Ob jetzt EU-Fördergelder ausfallen? Das wäre für uns kein Problem. Als ich Museumsdirektor in Dresden war, haben wir deutlich mehr mit Geld aus Brüssel gearbeitet. Hier in London haben wir nie EU-Fördergelder beantragt. Ich sehe auch keinen Grund, warum sich der Leihverkehr zwischen den Museen verändern sollte. Wir haben Leihgaben von China und in China - warum sollte sich der Leihverkehr innerhalb Europas verändern? Falsch wäre allerdings die Forderung, dass nun die Kultur Brücken schlagen muss. Nach den Künsten wird immer dann gerufen, wenn der Karren schon im Dreck steckt. Da wird die Kultur zum Harlekin. Wenn man nicht mehr weiter weiß, heißt es: Fragen wir mal die Künstler. Jetzt sollen erst mal Politiker und Wirtschaftler sehen, wie sie den Karren wieder herausholen.

Martin Roth, geboren 1955 in Stuttgart, ist Leiter des Victoria and Albert Museums in London. Davor war er Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. 2017 wird er Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen.

Martin Rees

Mich deprimiert dieses Ergebnis. Ich gehöre zu den 93 Prozent britischer Wissenschaftler, die sich neulich in einer Umfrage für eine Mitgliedschaft in der EU ausgesprochen haben. Einige der größten technologischen Erfolge Europas waren nur mit durch multinationale Zusammenarbeit möglich. Die EU war dabei quer durch alle Wissenschaften ein wichtiger Knotenpunkt für solche Kollaborationen. Das Erasmus-Programm der EU hat 200 000 britischen Studenten ermöglicht, Erfahrungen in Kontinentaleuropa zu sammeln. Unsere Universitäten sind derzeit Gastgeber für über 120 000 Studenten aus dem Rest der EU. Der Europäische Forschungsrat bietet auf allen Ebenen Stipendien und Förderungen an und Großbritannien bekommt dabei mehr als seinen anteilsmäßigen Anspruch. Ohne multilaterale Zusammenarbeit sind europäische Länder in der Regel zu klein, um so viele Spitzenleistungen zu stemmen wie die USA, egal ob in der Forschung oder in der High-Tech-Industrie. Und in einer immer dichter vernetzten Welt brauchen wir mehr transnationale Harmonisierung. Die Herausforderungen auf dem Gebiet der Umwelt und der Aufbau einer kohlenstoffarmen Energieversorgung erfordern zum Beispiel neue Infrastrukturen von kontinentaler Größe. Die akademische Welt, die High-Tech-Industrie und viele andere Berufszweige in Großbritannien profitieren außerdem davon, Talente aus der gesamten EU zu gewinnen. In meinem College in Cambridge sind die stärksten Studenten in der Regel vom europäischen Kontinent, viele aus der "erweiterten EU", aus Ungarn, Polen, Tschechien. David Cameron hat uns ein Ergebnis beschert, das Europa unwiderruflich schwächen und womöglich das Vereinigte Königreich spalten wird. Was für ein verheerendes Vermächtnis.

Martin Rees, geboren 1942, ist Astrophysiker, Master des Trinity College in Cambridge und war von 2005 bis 2010 Präsident der Royal Society.

John Banville

Die britische Entscheidung, die EU zu verlassen, ist für mich nicht weniger als eine Katastrophe. Eine der Konsequenzen wird ja sein, dass rechte, nationalistische Parteien und Bewegungen in ganz Europa nun an Selbstvertrauen und Attraktivität gewinnen. Es ist ein schlechter Tag für Europa und die Welt, und jeder, der nur einen Funken Geschichtsbewusstsein hat, wird unweigerlich mit Sorge an die Dreißigerjahre denken, jenes Jahrzehnt, das mit der Weltwirtschaftskrise begann und mit einem Krieg endete, der die europäische Zivilisation fast zerstörte. Der Aufstieg von politischen Opportunisten wie Boris Johnson und Nigel Farage ist ein beunruhigendes Zeichen für die Zukunft. Als Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat, war er den Tränen nah. Hoffen wir, dass wir Übrigen keinen Grund zu weinen haben.

John Banville, geboren 1945 in Irland, lebt in Dublin. Zuletzt erschien von ihm der Roman "Im Lichte der Vergangenheit" (Kiepenheuer & Witsch)

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