Musikindustrie:Amerikanische Musiker betreiben Stream-Schinderei

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Auf Platz eins der Billboard-Charts: Kanye West bei der Präsentation seines neuen Albums "The Life of Pablo" in New York. (Foto: REUTERS)

Es ist extrem schwer, ein Album über eine Stunde spannend zu halten. Trotzdem haben die Werke von Kanye West und Drake plötzlich Überlänge - das hilft bei der Chartsplatzierung.

Von Jan Kedves

Die einen sagen, das perfekte Popalbum sei genau 45 Minuten lang - so wie "Blue Lines" von Massive Attack aus dem Jahr 1991. Die anderen sagen, es dürften ruhig auch ein paar Minuten mehr sein - so wie zum Beispiel 1987 bei "Appetite for Destruction" von Guns N' Roses. Das war 54 Minuten lang.

Konsens herrschte jedoch bislang meist bei der Frage, ob ein Popalbum auch mal eine ganze Stunde oder länger sein darf: niemals!

Denn es ist extrem schwer, ein Album über eine Stunde spannend zu halten und dabei auch die oberste Maxime zu beachten: "All killer, no filler" - nur Premiumware, kein Ausschuss. Auf langen Alben ist dann meist eben doch B-Ware mit dabei. Die Dramaturgie hängt, man ist von schwächeren Songs eher genervt als gut unterhalten, musikalische Redundanzen fallen auf.

Die klassische Albumlänge - 38 bis 54 Minuten - hat sich vor Jahrzehnten wegen einer technischen Limitierung herausgebildet: Auf eine Vinyl-Seite passten maximal 26 bis 27 Minuten. Diese Länge hatte sich dann längst eingebrannt, als in den Achtzigerjahren auf der CD plötzlich mehr Platz war: 74 Minuten.

Die meisten Popalben blieben weiterhin angenehm kurz. Auch für das Streaming-Zeitalter schien dieser kulturelle Standard weiter zu gelten: Das "Lemonade"-Album von Beyoncé zum Beispiel, im April zunächst nur über Streaming-Plattformen veröffentlicht, kommt auf 45 Minuten und 49 Sekunden - obwohl beim Streaming technisch betrachtet natürlich keinerlei Zeitlimit mehr herrscht.

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Macht es wirklich Sinn, Klicks auf Youtube in die Berechnung der Album-Charts aufzunehmen?

Jetzt scheint sich aber bei großen Pop-Veröffentlichungen doch ein Trend zur Verlängerung abzuzeichnen, man könnte auch sagen: zur gefühlten Endlosigkeit.

Anfang April veröffentlichte Kanye West sein neues Album "The Life of Pablo": 19 Tracks, Spieldauer: 59 Minuten und 44 Sekunden. Anfang Mai folgte der britische Elektro-Soul-Barde James Blake mit "The Colour in Anything": 17 Songs in 76 Minuten und 13 Sekunden. Früher wäre das ein Doppelalbum gewesen. Getoppt wurde Blake sogar noch von dem kanadischen Rapper Drake: Dessen neues Album "Views" enthält 20 Tracks, Spieldauer: 81 Minuten und 15 Sekunden. Puh!

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Man könnte zunächst vielleicht denken, dass die Popkünstler hier endlich mal an den Trend zur Überlänge aus dem Kino oder auch an den Trend zum 900-Seiten-Schmöker aus der Literatur anschließen möchten.

Dem britischen Online-Musikmagazin FACT ist allerdings gerade aufgefallen, dass die Entwicklung auch mit etwas ganz anderem zusammenhängen könnte - nämlich schlicht einer Regeländerung: Die RIAA (Recording Industry Association of America) will dem veränderten Musikkonsum im digitalen Zeitalter Rechnung tragen und lässt deswegen seit Anfang Februar auch Zugriffszahlen von Streamingportalen wie Spotify sowie von Videoplattformen wie Youtube in die amerikanischen Album-Charts mit einberechnen. Und zwar nach dieser Formel: 1500 Audio- oder Videostreams sind gleich 10 verkaufte Tracks sind gleich ein verkauftes Album.

Das kann man natürlich reichlich absurd finden, denn de facto bedeutet das ja, dass jeder, der auf Youtube kurz auf ein Musikvideo klickt, damit auch irgendwie ein Album kauft - ein kleines bisschen zumindest.

Die Website Music Business Worldwide zitiert anonym einen Labelchef, der ironisch Parallelen zum Buchhandel zieht und spöttelt: "Wenn 100 Leute in ihrer Mittagspause in einem Buchladen ein Kapitel eines Romans durchblättern - gilt das dann auch schon als verkauftes Buch?"

Sicher ist: Im größten Musikmarkt der Welt lohnt es sich neuerdings, wenn ein Album bei einem Anhördurchgang nicht nur acht, sondern zwanzig Streams abwirft. Die Künstler - und sicher auch ihre Labelbosse - scheint das dazu zu animieren, ihre Alben mit Material anzufüllen, das früher eher im Archiv gelandet wäre.

Spannender werden die Alben dadurch sicher nicht, die Kalkulation geht aber auf: Kanye West kam mit seinem Album im April auf Platz eins der Billboard-Albumcharts; Drakes sich unerträglich lang dahinziehendes "Views" steht schon in der vierten Woche an der Spitze.

Einschränkende Maßnahmen in Deutschland

Könnte dieser Trend bald auch den deutschen Pop erreichen? Eher nicht. Zwar berücksichtigt das Marktforschungsinstitut GfK, das die Offiziellen Deutschen Charts ermittelt, neuerdings auch Streams für die Album-Charts. Allerdings nur Streams aus sogenannten Premiumangeboten, bei denen der Kunde für sein Abo zahlt.

Abgesehen davon werden die beiden meistgestreamten Songs (in der Regel sind das die ausgekoppelten Singles) aus der Ermittlung herausgenommen - um das Bild nicht allzu sehr zu verzerren. Und: Es zählen nur Streams ab einer Anhördauer von 31 Sekunden - um auszuschließen, dass sie von Klickbots generiert wurden, jenen berüchtigten Programmen, die im Dauerfeuer automatisiert auf Dateien zugreifen.

Das alles sind einschränkende Maßnahmen, die man fast als typisch deutsch, jedenfalls als sehr sorgfältig bezeichnen möchte. Sie könnten wohl verhindern, dass das unnötige Verlängern von Alben mit halbgaren Songskizzen, Interludes und dergleichen hierzulande in den Charts unnötig belohnt wird. Schlecht wäre das nicht.

© SZ vom 03.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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