Lesekultur:Wer noch liest, rebelliert

Mann liest Buch

Wahrscheinlich gibt es inzwischen kaum eine Sache, bei der man so einsam ist, was nicht nur etwas über das Lesen, sondern auch über uns und die Welt aussagt.

(Foto: dpa)

Menschen, die TV-Serien schauen, haben Smalltalk-Munition. Romanleser nicht. Warum man sich mit einem Buch sehr einsam fühlen kann.

Von Hannes Vollmuth

Es gibt in der Welt des Smalltalks ein paar Themen von verlässlicher Stabilität. Fußball geht zum Beispiel immer. Launige Großwetterlagen gehen auch, Ur-Smalltalk. Zum Brexit hat jeder etwas zu sagen, auch zur AfD oder der Bedrohung durch den Terrorismus. Wem das zu politisch und damit heikel ist: Urlaubspläne, neue Smartphones, Game of Thrones und House of Cards, TV-Serien aller Art. Nur Romane gehören nicht mehr dazu.

Keine Angst, dies ist nicht schon wieder ein Text über den Tod des Romans, versprochen. Der Roman lebt, es geht ihm gut. Es gibt apokalyptisch wummernde Romane wie "Der Fuchs" von Nis-Momme Stockmann und es gibt zarte Erzählstudien wie "Auerhaus" von Bov Bjerg. Es gibt Romanstoff für alles und jeden. Sich monatelang rauschhaft durch neue Romanwelten fressen - geht, überhaupt kein Problem. Das Einzige, womit man zurechtkommen muss: die Einsamkeit.

Wahrscheinlich gibt es inzwischen kaum eine Sache, bei der man so einsam ist

Zur Einsamkeit während des Lesens, die immer eine angenehme ist, kommt seit einiger Zeit auch die Einsamkeit nach dem Lesen. Die zweite Einsamkeit ist ein bisschen unangenehm. Wahrscheinlich gibt es inzwischen kaum eine Sache, bei der man so einsam ist, was nicht nur etwas über das Lesen, sondern auch über uns und die Welt aussagt. Man muss die Stille, angefüllt mit ein paar nackten Buchstaben, schon aushalten können.

Auf einer Geburtstagsfeier über das Ende von Juli Zehs neuem Roman "Unterleuten" debattieren? Geht nicht. Nicht, weil es nichts zu fachsimpeln gäbe, sondern weil die Wahrscheinlichkeit für eine Gesprächsgrundlage gegen null tendiert: zu viele unterschiedliche Romane für zu wenige Leser. Es ist, als würde man ab und zu Bundesliga schauen, aber beim Bier mit Kumpels feststellen, dass jeder - wenn überhaupt - doch ein anderes Spiel gesehen hat.

Die Kommunikationswissenschaft nennt das, was Romanleser immer mehr abgeht, Anschlusskommunikation. Anschlusskommunikation schafft Gemeinschaft. Anschlusskommunikation hält Gefühle wie Zugehörigkeit bereit, ist Smalltalk-Munition. Ein gelesener Roman gehört definitiv nicht dazu.

Am schlimmsten sind die Jahre ohne literarische Großevents

Am schlimmsten sind die Jahre ohne literarische Großevents wie Harry Potter oder einen neuen Jonathan-Franzen-Roman (und davon gibt es verdammt viele). Dann wird es zäh. Gespräche über Romane: Haste den gelesen? Nee. Kennste vielleicht den? Auch nicht. Immer noch sind ein Drittel aller verkauften Bücher Romane. Aber dass sich das irgendwie in angeregten Alltagsgesprächen niederschlagen würde, kann man nicht behaupten.

Das Nichtlesen oder Nicht-mehr-lesen-Können ist selbst schon zum Smalltalk-Thema geworden. Man klagt über keine Zeit, keine Muße für ein längeres Buch. Wer noch kämpft, steigt auf Kurzgeschichten um oder hört Hörbücher während einer langen Autofahrt. Wer aufgegeben hat, schickt seine traurigen, ungelesenen Buchbestände nach Leipzig, wo zumindest Momox, Europas größter Secondhand-Buchhändler, noch an der schwindenden Leselust verdient.

Einige werden jetzt sicher einwenden wollen, dass es noch weit nischigere Kulturhobbys gibt: Theater zum Beispiel, oder die Oper. Aber im Gegensatz zum einsamen Lesen im stillen Kämmerlein ist Theater oder Oper schon erlebte Gemeinschaft per se. Man sitzt zusammen, schwitzt, leidet oder ist beglückt. Und geht nach Hause mit dem Gefühl, Teil einer zumindest kleinen Gemeinschaft zu sein.

Was bleibt dem Romaneleser also? Bücher verschenken

Was bleibt dem Romaneleser also? Bücher verschenken in der Hoffnung auf Komplizenschaft. Leseclubs beitreten. Amazon-Rezensionen studieren, Kritiken auf Perlentaucher.de. Verrückt, dass ausgerechnet das Internet wieder mal die größte der kleinen Hoffnungen ist. Ein Heer von Nachwuchs-Elke-Heidenreichs spricht auf Youtube über Bücher, man nennt sie Booktuber. Und eine Art Mini-Facebook für Leser gibt es inzwischen auch, Lovelybooks genannt.

Klar ist es fraglich, ob es jemals anders war. Ob man, sagen wir, an einem lauen Biergarten-Sommerabend in den Achtzigern über Neuerscheinungen der Saison parlieren konnte. Und vielleicht hat die Romaneinsamkeit auch ihr Gutes. Wer noch liest, rebelliert. Er entzieht sich der blinkenden Update-Welt nicht nur für Stunden, sondern zusammengerechnet sogar für mehrere Tage. Er entflieht der Welt auf eine Insel namens Buch. Eine letzte kleine Zen-Übung im großen Gesimse, Gefiepe und Piep. Und für den Smalltalk muss halt die nächste Game of Thrones-Staffel herhalten.

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