Flüchtlinge in Bayern:Mit zwei Tüten Leben

Flüchtlinge in Bayern: Die Beamten tragen vorsichtshalber Mundschutz und Gummihandschuhe.

Die Beamten tragen vorsichtshalber Mundschutz und Gummihandschuhe.

(Foto: Claus Schunk)

Seitdem sie am Donnerstag 77 Flüchtlinge in einem Zug aufgegriffen hat, nähert sich die Inspektion Rosenheim einem neuen Rekord. In ihrem Einsatzgebiet werden deutschlandweit die meisten unerlaubten Einreisen registriert. Doch die wahren Verbrecher sind andere.

Von Kathleen Hildebrand, Rosenheim

"Germany?" fragt der dunkelhäutige junge Mann in Jeans und grauem Poloshirt. "Is this Germany?" Er zeigt mit dem Finger nach unten. Auf den Bahnsteig von Gleis drei am Bahnhof Rosenheim. Ob das jetzt Deutschland ist, will er wissen - oder doch noch Österreich, vielleicht sogar Italien?

"Yes, Germany", sagt einer der Bundespolizisten. Jaman H. aus Eritrea strahlt. Er war zwei Monate unterwegs, erzählt er. Jetzt hebt er den linken Daumen vor sein Gesicht. Geschafft. Dass der Zug, in dem er eben noch saß, zum Anhalten gezwungen wurde, dass er und 76 weitere Flüchtlinge aussteigen mussten und nun umringt von dunkelblau uniformierten Männern und Frauen warten - bei Telefonier- und Rauchverbot: All das ist jetzt egal. Vier seiner Mitreisenden umringen ihn und fragen sicherheitshalber noch mal nach: "Germany?" Aber das Lächeln breitet sich da schon auf ihren Gesichtern aus.

Fast 5000 Flüchtlinge seit Januar

Es ist Donnerstag, der 28. August. Die Bundespolizei Rosenheim hat bei einer Kontrolle im Eurocity aus Verona 77 Flüchtlinge gefunden, unter ihnen 14 Kinder. 37 kommen aus Eritrea, 20 aus Syrien. Eine neunköpfige Familie aus Palästina ist dabei. Einzelne kommen aus Nigeria, Äthiopien, dem Sudan. Mehr Gepäck als einen Rucksack oder eine Plastiktüte hat niemand.

Im Gebiet der Bundespolizei Rosenheim werden deutschlandweit die meisten Einreisen ohne Aufenthaltserlaubnis registriert. Momentan greifen die Bundespolizisten täglich Flüchtlinge auf. Mit den 77 Menschen aus dem EC 88 vom Donnerstag nähert sich die Inspektion Rosenheim einer neuen Rekordzahl: Seit Januar 2014 hat die Bundespolizei hier fast 5000 Flüchtlinge aufgegriffen. Das sind bereits mehr als im ganzen Jahr 2013.

Jana S. und Tobias M. sind Grenzfahnder der Bundespolizeiinspektion Rosenheim. Die 77 Flüchtlinge sind ihr heutiger Fahndungserfolg. So kann man das sehen. 77 unerlaubte Einreisen - ohne Papiere, ohne Aufenthaltsgenehmigung - sind 77 Straftaten. Doch die wahren Verbrecher sind andere: Die Bundespolizei sucht Schleuser, oft organisiert in großen internationalen Netzwerken von Menschenhändlern. Sie nutzen die Notsituation der Flüchtlinge aus und nehmen viel Geld dafür, dass sie ihnen helfen, nach Europa zu kommen. Bis zu 30 000 Euro kann eine Reise kosten. Allein für die Autofahrt von Italien nach Deutschland sind 500 Euro fällig.

Einen Ausweis hat keiner hier dabei

Viele Flüchtlinge verkaufen alles, was sie besitzen, um die Schleuser zu bezahlen - und werden dann oft unter menschenunwürdigen Bedingungen transportiert: Die Grenzfahnder finden immer wieder Menschen in Kofferräumen, eingeengt in Kleintransportern oder zwischen der Ladung eines LKW. Platz und Hygiene sind im Preis nicht inbegriffen. Manche Flüchtlinge kommen deshalb mit Krankheiten wie Krätze und Tuberkulose in Rosenheim an und müssen nach der Aufnahme in der Inspektion von Ärzten behandelt werden.

Als Jana S. und Tobias M. im österreichischen Kufstein in den EC zusteigen, ziehen sie als erstes ihre Gummihandschuhe an. "Meinen Mundschutz hab ich vergessen", sagt Fahnderin Jana S., 26 Jahre alt, Jeans, Kapuzenpulli, die blonden Haare zu einem schnellen Dutt zusammengebunden. Sie ist seit fünf Uhr morgens im Einsatz, einem der ersten, seit sie aus der Elternzeit zurück ist. Auch ihr Kollege Tobias, 28 Jahre alt, ist junger Vater.

Warten auf verdächtige Fahrzeuge

Der Anblick der Flüchtlingsfamilien, die "mit zwei Tüten Leben" hier am Bahnsteig ankommen, haben auch ihren Blick auf ihr eigenes Leben verändert, sagt sie: "Wenn ich die kleinen Butzerl sehe, die auf der Reise geboren wurden, dann denke ich oft darüber nach, was man selbst für einen Aufriss mit seinem Kind betreibt."

Die Morgenstunden und den Vormittag haben Jana S. und Tobias M. auf der Autobahn verbracht. Dort finden die Fahnder etwa genauso viele unerlaubt Einreisende wie in den Zügen, die aus Italien kommen. In einer Sonderspur an der A 93 standen sie mit ihrem silbergrauen BMW und warteten auf verdächtige Fahrzeuge. Linienbusse, Kastenwagen, Kleintransporter mit verdunkelten Scheiben, "meistens sind es etwas angeranzte Fahrzeuge", sagt Tobias M. Ein paar Mal schießt er mit dem grauen Fahnder-BMW aus der Sonderspur heraus. Beschleunigt, überholt, schaltet die Anzeige hinter der Rückscheibe an: "Polizei - Bitte folgen". An der nächsten Ausfahrt kontrollieren Jana und Tobias Ausweise und Laderäume.

Einer versucht, zu fliehen

Fündig aber werden sie an diesem Tag erst bei der Zugkontrolle am Mittag. Gleich im ersten Abteil des letzten Waggons sitzen sechs junge Männer aus Eritrea. "German Police", sagt Jana S., "passports please!" Die Bitte läuft, wie erwartet, ins Leere: Einen Ausweis hat keiner hier dabei. "Stay here" - "Bleiben Sie sitzen", sagt Jana S. Und so geht es weiter. Zwischen ein paar versprengten Wanderurlaubern sitzen Syrer, Palästinenser, Nigerianer. Alle ohne Pass.

Die Fahnder fordern Verstärkung an, der Zug muss in Rosenheim halten. Die Türen bleiben verriegelt. Erst als der Bahnsteig gesichert ist, steigen die Flüchtlinge aus. Gegen Ende wird es ganz kurz brenzlig: Ein paar junge Eritreer haben sich in einer Zugtoilette versteckt. Als die Beamten die Tür öffnen, versucht einer der drei durch den Gang des Zugs zu fliehen. Jana S. und zwei ihrer Kollegen halten ihn auf, draußen werden ihm Handschellen angelegt. Jaman H. und ein paar Landsmänner reden auf ihn ein. Bald steht er ruhig mit den anderen in einer Schlange vor den Polizei-Kleinbussen, lässt sich ein Papierbändchen ums Handgelenk legen und steigt ein.

In der Polizeiinspektion steht eine Turnhalle voller Feldbetten bereit. Aus der Illegalität sind die 77 Menschen heraus, sobald sie ihre Personalien angegeben und Fingerabdrücke abgegeben haben. Wenn sie ein Schutzersuchen stellen, werden sie vom überfüllten Zirndorf aus auf die Flüchtlingsaufnahmestellen verschiedener Bundesländer verteilt. Germany haben sie erreicht. Aber die Reise geht weiter.

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