Autoindustrie:Deutschland könnte zum großen Verlierer der Mobilitäts-Revolution werden

Google Car auf dem Google Campus in Mountain View

Die deutsche Autoindustrie braucht eine Innovationskultur ähnlich der von Google oder Apple, um nicht zum Fremdkörper in der Gesellschaft zu werden.

(Foto: Tony Avelar/AP)

Auch eine Fördermilliarde kann der Autoindustrie nicht aus der Misere helfen. Sie braucht etwas ganz anderes.

Essay von Markus Balser

Wie man Revolutionen verschläft? Die Industriegeschichte liefert anschauliche Beispiele: "Dieses Telefon hat zu viele Schwächen, als dass man es ernsthaft für die Kommunikation in Erwägung ziehen kann", fand das amerikanische Telegrafenunternehmen Western Union 1876 in einem Memo. Bis dahin verdiente es gut daran, die Verbindung zwischen Ost- und Westküste am Leben zu halten.

Und selbst jene Zeitgenossen, die Revolutionen auslösen, erkennen sie nicht immer. "Ich denke, dass es weltweit einen Markt für vielleicht fünf Computer gibt", prognostizierte Thomas Watson im Kriegsjahr 1943. Watson war Vorsitzender von IBM, jenem Konzern also, der dem PC später zum Durchbruch verhalf - und damit auch der gesamten Digitalisierung.

Der Markt zu klein, die Technik zu kompliziert. Wenn Automanager heute über die Abkehr von fossilen Energieträgern in Autos und die Zukunft alternativer Antriebe sprechen, dann klingt das nur selten nach Aufbruch, sondern eher wie: "Das Elektroauto hat zu viele Schwächen, als dass man es ernsthaft für die Mobilität in Erwägung ziehen könnte."

Autos, Busse oder Bahnen sollen bald schon automatisch fahren

Es war die Politik, die der Branche in dieser Woche den Spiegel vorhielt und eine Revolution ihres Marktes voraussagte. Eine, deren Ausgang für sie selbst erschreckend offen sei. "Wir stehen vor der Neuerfindung der Mobilität", warnte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel. Nur würde die gerade von Konzernen außerhalb angetrieben. Deutlicher und dramatischer kann eine Regierung die Angst um Tausende Jobs der größten Industrie des Landes wohl kaum in Worte fassen.

In den Zentren der technischen Avantgarde, wie dem Silicon Valley, rollt die Revolution in Form von Elektroautos schon lautlos und im großen Stil über die Straßen. Dort wird schon jenseits von Teststrecken ausgelotet, wie Menschen ihr Schicksal im Auto Computern, Instrumenten und Algorithmen anvertrauen können. Denn innerhalb einer Dekade soll ein großer Teil des weltweiten Verkehrs schon automatisch fahren, egal ob Autos, Busse oder Bahnen. Dort wird nicht nur darüber nachgedacht, wie die Digitalisierung der Verkehrsströme Menschen und Regionen verändern, welche Folgen neue Konzepte wie Car-Sharing haben - und wo künftige Geschäftsmodelle liegen. Denn nicht nur fossile Antriebe, auch das Modell des Privatwagens steht vor der Ablösung.

Positive und negative Effekte

Binnen weniger Jahre wird sich die Mobilität durch all dies stärker verändern als im gesamten vergangenen Jahrhundert. Der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter hat solche technischen Revolutionen einmal als Prozess der "schöpferischen Zerstörung" beschrieben. Der Begriff ist heute aus der Ökonomie nicht mehr wegzudenken, weil er technische Revolutionen in ihrer ganzen Tragweite beschreibt. Als Prozess, der schafft, aber auch vernichtet. Und dabei geht es um mehr als Produkte.

Abgelöst werden nicht selten auch Verhaltensmuster, Gewohnheiten und Normen. Abgelöst werden aber auch Märkte und ihre beherrschenden Unternehmen. Die tiefe Krise der deutschen Energiebranche ist dafür nur das aktuellste Beispiel, die Dampfmaschine das wohl bislang weitreichendste. Sie machte nicht nur die Muskelkraft obsolet, sondern schaffte es auch, dass Produktion zentralisiert wurde. Sie steht dabei genauso für positive wie negative Effekte, für Effizienz ebenso wie für Massenarbeitslosigkeit. Und auch der Computer blieb nicht nur die Rechenmaschine der Ära von Thomas Watson. Er veränderte den Konzern und mit ihm die Arbeitswelt wie kaum ein anderes Gerät zuvor. Er ermöglichte die Globalisierung. Und er verändert das Leben der Menschen bis tief hinein in beinahe jeden Winkel ihrer Privatsphäre.

Steigender Druck zu einem kompletten Systemwechsel

Auch der Wandel der Mobilität hat das Zeug zur Revolution, zu Neuerfindung und Zerstörung. Daran gibt es außerhalb der Autobranche kaum noch Zweifel. Denn neue Techniken treffen nicht nur auf radikale Veränderungen von Gewohnheiten, sondern auch auf neue technische Möglichkeiten. Und auf schiere Zwänge.

Denn das eigentliche Drehbuch dieser Revolution wurde schon auf dem Klimagipfel in Paris Ende des vergangenen Jahres geschrieben. Die Staatengemeinschaft hatte dort den schrittweisen Abschied von fossilen Energieträgern beschlossen. Wie schon bei der Energiewende wächst auch im Mobilitätssektor der Druck zu einem kompletten Systemwechsel.

Neue Formen des Individualverkehrs

Mehr als eine Milliarde Autos rollen über den Globus - gut 40 Millionen allein in Deutschland. Sie verstopfen Straßen und vernichten Rohstoffe. Sie verändern das Klima und bürden Städten mit Abgasen und Feinstaub gewaltige Probleme auf. In den nächsten Jahren werden die noch zunehmen. Heute lebt die Hälfte der Menschen in urbanen Zentren, 2050 werden es schon zwei Drittel sein - bei wachsender Weltbevölkerung.

Chinas Smog-Metropolen führen vor Augen, wie Städte von morgen aussähen, würden auf ihren Straßen dann noch überwiegend Autos mit fossilen Antrieben fahren. Das aktuelle Wohlstandsmodell ist in vielen Weltregionen schlicht nicht mehr wachstumsfähig. Schon fast verzweifelt fragte Chinas Autominister Wan Gang kürzlich, wie sein Land den erwarteten Anstieg der Autofahrer von 100 auf 700 Millionen eigentlich überstehen soll.

Der bevorstehende Umbau des Mobilitätssektors aber wird beim Wechsel des Betriebssystems vom Benzin hin zur Batterie nicht haltmachen. Er geht weit darüber hinaus. Er wird Städte binnen zwei Dekaden durch einen großteils geräusch- und abgasfreien Verkehr verändern. Er wird das Verhalten der Menschen mit neuen Formen des Individualverkehrs prägen. Und er wird der Wirtschaft ganz neue Angebote abverlangen. Es zeichnet sich ab: Die Mobilität steht vor einer Revolution, allenfalls vergleichbar mit jener Zeit, als erste Autos wie der Benz Patent-Motorwagen Nummer 1 Ende des 19. Jahrhunderts begannen, Fuhrwerke abzulösen.

Die Autoindustrie bremst ihren eigenen Wandel aus

Zu Recht macht sich die deutsche Politik derzeit Sorgen darüber, ob die hiesige Autoindustrie der eigenen Runderneuerung eigentlich gewachsen ist. Denn die Diesel-Affäre hat deutlich gemacht, wie stark sie in altem Denken verharrt und welche Kluft dadurch in der Wirtschaft des Landes entstanden ist. Während die schöpferische Zerstörung in vielen Bereichen längst begonnen hat - mit grünen deutschen Firmen an der Spitze - bremst die Autoindustrie ihren eigenen Wandel bislang aktiv aus.

Eine große Chance droht damit zu verstreichen. Viele deutsche Unternehmen sind längst führend in der Umwelttechnik. Mal geht es um Wasseraufbereitung, mal um Energieeffizienz- oder -Erzeugung. Und mal um die Reinigung von Abgasen in Fabrikschloten. Viele Konzerne verdienen mit solchen Produkten, auch mit der Verschärfung internationaler Umweltgrenzwerte, längst Milliarden. Sie haben sich damit einen Namen gemacht. Doch während Energie, IT- oder Technologieunternehmen Teil der Lösung sein wollen, bleibt ausgerechnet die größte und wohlhabendste Branche ein träger wie dreister Teil des Problems.

Die Autobranche wird zum Fremdkörper in der Gesellschaft

Dabei konnten die Verantwortlichen der Wirtschaft selten so klar vor Augen haben, worin die Herausforderungen der Zukunft liegen: im Kampf einer wachsenden Weltbevölkerung um begrenzte Ressourcen, seien es Rohstoffe, saubere Luft oder eine klimaschützende Atmosphäre. Die deutsche Autoindustrie ignoriert das bislang in weiten Teilen geflissentlich und wird damit in der Gesellschaft zum Fremdkörper. Grenzwerte zum Schutz von Umwelt und Mensch einhalten? Ach was. Irgendein Trick wird die Sache schon regeln. Grenzüberschreitungen von mehr als 1000 Prozent bei den Abgasen? Kein Problem, denn intensive Kontrollen hatten einflussreiche Lobbbyisten ja verhindert.

Erst ein Promille der Autos dagegen fährt in Deutschland mit Strom - und damit im Idealfall gänzlich ohne Abgase. In der Autoindustrie, die auf das Auskosten ihrer bereits entwickelten fossilen Technologien setzt, hält man das noch immer für eine gute Nachricht. Denn je später der Umbruch, desto größer der Verdienst am etablierten Geschäftsmodell. Es ist eher der Verzweiflung der Politik geschuldet als ihrer echten Hoffnung auf Besserung, dass ein neues Förderprogramm für den Verkehr der Zukunft aus der Misere helfen soll. Eine Milliarde Euro zahlt die Bundesregierung bis 2020 für die Förderung der Elektromobilität.

Ein Kulturwandel ist nötig

Für eine Branche, die Hunderte Milliarden Euro im Jahr umsetzt, ist das eher ein symbolischer Akt. Die Förderung wird nicht reichen, um Konzerne wie VW oder Daimler zu Gewinnern der Revolution zu machen. Es fehlt an mehr als nur am Geld. Nötig ist ein Kulturwandel. Einer, der die Erneuerung zum Geschäftsmodell erhebt und nicht deren Verhinderung. Das gilt umso mehr, seit Konzerne mit ganz anderer Innovationskultur wie Google oder Apple die Bühne betreten und die Hauptrollen für sich beanspruchen.

In welchem Tempo und mit welcher Richtung sich der Wandel vollzieht, das kann die Politik mit Geld an globalen Märkten kaum noch beeinflussen. Aber sie kann durch mehr Distanz bei der Erneuerung helfen, indem sie auf die strikte Einhaltung von Umweltgesetzen dringt. Nur das kann helfen, dringend nötige Innovationen zu forcieren.

"Nach Öl bohren? Sind Sie verrückt?"

Es ist aber vor allem die Industrie selbst, die jetzt die Zeichen der Zeit erkennen muss. Schumpeter und sein Modell der schöpferischen Zerstörung sagen voraus, was passiert, wenn sie scheitert. Denn auch in seinen Denkmodellen versiegte die schöpferische Kraft zunehmend, und zwar in dem Maße, in dem nicht mehr mutige Pionierunternehmer, sondern machtvolle Konzernstrukturen das Wirtschaftsgeschehen dominieren.

Dass die Erneuerung auch gegen Widerstände gelingen kann, zeigt ausgerechnet der Beginn des Ölzeitalters. Ein Banker, der dazu aufgefordert wurde, eine der ersten Ölbohrungen in den USA zu finanzieren, hatte laut Überlieferung eine deutliche Reaktion parat: "Nach Öl bohren? Sie meinen Löcher in die Erde bohren und hoffen, dass Öl rauskommt? Sind Sie verrückt?"

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