Wissenschaft:Expeditionen ins exotische Flachland der Materie

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Stockholm/Berlin (dpa) - Tief im Herzen der Materie liegt eine exotische Welt: Atome schwingen dort im Gleichtakt oder formen mikroskopische Wirbelpaare. Solche Phänomene, die in der Regel erst bei sehr tiefen Temperaturen entstehen, können für überraschende neue Materialeigenschaften sorgen.

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Stockholm/Berlin (dpa) - Tief im Herzen der Materie liegt eine exotische Welt: Atome schwingen dort im Gleichtakt oder formen mikroskopische Wirbelpaare. Solche Phänomene, die in der Regel erst bei sehr tiefen Temperaturen entstehen, können für überraschende neue Materialeigenschaften sorgen.

Manche tiefgekühlten Metalle verlieren jeden elektrischen Widerstand, einige ultrakalte Flüssigkeiten kriechen entgegen der Schwerkraft die Wände ihres Behälters hoch. Das eigenartige Verhalten auf der mikroskopischen Skala wird von den Gesetzen der Quantenphysik diktiert. Für die Entdeckung unerwarteter mathematischer Regeln in dieser Quantenwelt bekommen die drei gebürtigen Briten David Thouless, Duncan Haldane und Michael Kosterlitz in diesem Jahr den Physik-Nobelpreis.

Die drei Physiker haben Phänomene untersucht, die auf Oberflächen oder in mikroskopisch dünnen Schichten auftreten, die im Gegensatz zu unserer üblicherweise dreidimensionalen Welt als zweidimensional angesehen werden können. In diesen „Flachlanden der Materie“ würden beständig neue Phänomene entdeckt, betont die Königlich-Schwedische Wissenschaftsakademie, die den Nobelpreis vergibt. Ein Beispiel ist der sogenannte Quanten-Hall-Effekt, für dessen Nachweis der deutsche Physiker Klaus von Klitzing 1985 den Nobelpreis bekam. Dabei steigt die elektrische Leitfähigkeit einer dünnen Schicht in einem Magnetfeld sprunghaft in Stufen an und nicht wie erwartet kontinuierlich.

Die diesjährigen Nobelpreisträger bedienten sich eines speziellen mathematischen Werkzeugs: der Topologie. Diese Disziplin beschreibt Strukturen, deren Grundeigenschaft bei Verformungen erhalten bleibt. Beispielsweise können ein Würfel und ein Ball ineinander umgeformt werden, sie sind daher topologisch gleich. Ein Reifen und ein Ball lassen sich dagegen nicht ineinander umformen, ohne in den Ball ein Loch zu stechen. Topologisch sind daher ein Ball und ein Reifen unterschiedlich, ein Bagel und eine Henkeltasse jedoch gleich. Denn die Tasse hat ein Loch im Henkel und lässt sich daher mathematisch zu einem Bagel umformen - in der Realität müsste ihr Material natürlich weich genug dazu sein.

Topologen seien ausschließlich daran interessiert, wie viele Löcher eine Struktur habe, erläutert Nobeljuror Thors Hans Hansson. Das Besondere daran: Löcher können nur ganzzahlig auftreten - etwas kann kein Loch haben, eins, zwei oder mehr. Es gibt keine Zwischenschritte wie sonst in der Physik. „Versuchen Sie, sich ein halbes Loch vorzustellen“, sagt Hansson. „Das geht nicht. Ein halbes Loch kann man nicht haben.“ Damit eignet sich die Topologie gut, um das sprunghafte Verhalten vieler Materialien zu beschreiben, wie beim Quanten-Hall-Effekt. „Es zeigte sich, dass viele Materialien solche topologischen Eigenschaften haben, man hatte nur nicht danach gesucht“, berichtet der frisch gekürte Preisträger Haldane per Telefon auf der Nobel-Pressekonferenz in Stockholm.

Die Entdeckung begründete ein ganz neues Forschungsfeld, denn mit diesem mathematischen Ansatz haben die Physiker neben den bekannten Aggregatzuständen fest, flüssig und gasförmig auch sogenannte topologische Phasen entdeckt. So wie bei einem Phasenübergang etwa ein Eiswürfel zu Wasser schmilzt, gibt es auch topologische Phasenübergänge, bei denen sich die Zahl der Löcher und damit die Materialeigenschaften sprunghaft ändern - etwa die elektrische Leitfähigkeit beim Quanten-Hall-Effekt.

Das ist wenig greifbar, hat aber „den Weg geebnet, um neue Materialien mit neuen Eigenschaften zu entwerfen“, wie Nils Mårtensson vom Nobel-Komitee betont. Die Entdeckung der topologischen Phasen sei von grundlegender Bedeutung, unterstreicht Hansson. „Sie zeigt auf schöne Weise das Zusammenspiel von Physik und Mathematik.“ Viele Anwendungen seien denkbar, aber noch nicht konkret abzusehen. „Vielleicht gibt es in Zukunft Quantencomputer, die topologische Effekte nutzen“, spekuliert der Juror.

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