Die Globalisierung galt vielen als Kraft, die Unterschiede niederwalzt. Dafür lassen sich auch Belege finden: Große Konzerne und Marken dominieren das Konsumverhalten der Menschen weltweit. Und wenn am Ende alle die gleichen Telefone in der Tasche herumtragen, die gleichen Schuhe und die gleichen Kleider anziehen, in den gleichen Restaurantketten essen, die gleiche Musik streamen, die gleichen Filme ansehen und miteinander auf den gleichen Social-Media-Plattformen vernetzen - dann müssten sich doch auch die Wertvorstellungen der Menschen weltweit anpassen, oder?
Diese Idee steckt zumindest in außenpolitischen Konzepten wie dem (gescheiterten) Wandel durch Handel sowie der Grundidee, dass wirtschaftliche Verflechtung fast zwangsläufig Freiheit und Demokratie in ihrem Schlepptau nach sich ziehen. Womöglich ist aber das Gegenteil der Fall: Wie eine Auswertung von Daten aus 76 Ländern zeigt, haben sich in den Jahren zwischen 1981 und 2022 Wertvorstellungen weltweit auseinanderentwickelt. Das gilt besonders für Ansichten, die mit Toleranz und individueller Freiheit zu tun haben.
Psychologie:Reden wir uns wirklich schön, was wir tun?
Wenn das eigene Verhalten nicht zur grundsätzlichen Einstellung passt, deuten Menschen eher die Fakten um, als anders zu handeln - so eine Theorie in der Psychologie. Doch ein Versuch weckt nun Zweifel daran.
Die Länder des wohlhabenden Westens unterscheiden sich demnach immer stärker von Ländern etwa in Afrika oder Süd- und Ostasien. Das berichten Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev von der University of Chicago im Fachjournal Nature Communications. Die beiden Sozialwissenschaftler werteten Daten des repräsentativen World Values Survey aus. Dafür haben 406 185 Teilnehmer aus 76 Staaten in den vergangenen etwa 40 Jahren regelmäßig Auskunft zu Einstellungen und Werten gegeben. Ziel der Analyse war es, die kulturellen Unterschiede von insgesamt 40 relevanten Werten zu messen, von denen die meisten im weiteren Sinne mit Offenheit, Toleranz und Gehorsam zu tun haben.
Ein Beispiel dafür, wie sich Werte auseinanderentwickeln, sind Vorstellungen zur Kindererziehung. 1981 gaben noch 39 Prozent der befragten Australier und 32 Prozent der Teilnehmer aus Pakistan an, dass kindlicher Gehorsam wichtig sei. Im Jahr 2022 unterstützten nur noch 18 Prozent der Australier, dafür aber 49 der befragten Pakistani diese Ansicht. Ähnliche Entwicklungen beobachteten Jackson und Medvedev bei Themen wie der Akzeptanz von Homosexualität, Sterbehilfe, Scheidung, Prostitution oder Abtreibung. In diesen Bereichen entwickelten sich die Wertevorstellungen in den wohlhabenden Nationen des Westens und denen in anderen Ländern während des Untersuchungszeitraums besonders stark auseinander.
Global driften Wertvorstellungen also offenbar auseinander. Regional scheint aber das Gegenteil der Fall zu sein. Länder in geografischer und damit auch kultureller Nähe zueinander zeigen demnach mit der Zeit eine größere Überschneidung von Wertvorstellungen.
Spricht das für die These vom Kampf der Kulturen?
Wenn Werte zunehmend voneinander divergieren, birgt das die Gefahr neuer internationaler Konflikte. In Ländern des Nahen Ostens, in Asien sowie Afrika zeigt sich zum Beispiel eine zunehmend ablehnende, manchmal feindliche Haltung gegenüber westlichen Staaten - und vermutlich damit verbunden, auch den Werten dieser Länder gegenüber. "Unsere Untersuchung legt nahe, dass die Globalisierung und der damit verbundene Kontakt zwischen Gruppen nicht ausreichend sind, um sich auch in sozialen Wertvorstellungen aneinander anzunähern", schreiben Jackson und Medvedev. Auch die Ansicht, dass wachsender Wohlstand die Verbreitung von Toleranz und emanzipativen Werten befördere, gelte womöglich nur für einzelne Regionen der Welt und nicht für den gesamten Globus.
Warum das so ist, darüber können die Forscher keine Aussagen treffen. Ein Fazit ziehen Jackson und Medvedev aber aus ihren Beobachtungen: Die Entwicklung einer Art universeller Zivilisation auf der Erde, die eines Tages demokratische Werte teile und die Freiheit des Individuums ehre, sei wohl eher unwahrscheinlich, so ihre Argumentation. Vielmehr sprächen ihre Ergebnisse für die Thesen, die Samuel Huntington in den 1990er-Jahren in seinem Werk "Kampf der Kulturen" vertreten habe. Darin entwarf der US-amerikanische Politikwissenschaftler das Szenario, wonach das 21. Jahrhundert von Konflikten zwischen Kulturräumen dominiert werde, etwa zwischen dem Westen und China sowie der islamischen Welt.
Was auch immer am Ende zutreffend sein wird, sicher ist wohl: Wirtschaftliche Entwicklung und Kooperation allein lassen Freiheit und Demokratie nicht zwangsläufig erblühen.