Verhaltensbiologie:Die komplexe Dynamik von Tierherden

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Eine Karibu-Herde in Alaska rastet auf einem Flecken Schnee. (Foto: Peter Mather/Minden Pictures/mauritius images)
  • Mit Drohnen-Aufnahmen und mathematischen Modellen haben Forscher die Dynamiken in Tiergruppen untersucht.
  • Die räumliche Position, die ein einzelnes Tier innerhalb seiner Gruppe einnimmt, beruht kaum auf Zufall.
  • Oft hängt es von Alter und Geschlecht ab, wo sich in der Herde welche Tiere befinden - manchmal aber auch von deren Persönlichkeit.

Von Katrin Blawat

Auf den ersten Blick sieht es aus, als zögen Ameisen übers Eis. Ein langer, erstaunlich geradliniger Strom schwarzer Punkte arbeitet sich durch die kahle, weiße Landschaft. Zoomt die Kamera näher heran, bekommen die vermeintlichen Ameisen braunes Fell und imposante Geweihe. Es sind Karibus, kanadische Rentiere, die von ihren Sommerquartieren über Tausende Kilometer in südlichere Gebiete ziehen.

Andrew Berdahl, der weit entfernt vom Lebensraum der Rentiere am Santa Fe Institute in New Mexiko forscht, hat zahlreiche solcher Luftaufnahmen ziehender Karibus gesehen. Oft hat er sich dabei gefragt: Welches Bild entstünde, wenn man nicht nur filmtechnisch heranzoomte, sondern auch unter biologischen Gesichtspunkten?

Wenn man nicht nur die Herde als Gesamtgebilde, sondern auch ihre einzelnen Mitglieder und Kleingrüppchen untersuchen könnte? Die Ergebnisse dieser Überlegungen, gewonnen mithilfe von Drohnen-Aufnahmen und mathematischen Modellen, präsentieren Berdahl und seine Kollegen im Fachmagazin Philosophical Transactions B im Rahmen eines Themenschwerpunkts zu den Dynamiken in Tiergruppen.

"Bleibe dicht bei dem Nachbarn, stoße aber nicht mit ihm zusammen"

"Wir haben enorme Unterschiede darin gefunden, wie sehr sich ein Tier von anderen beeinflussen lässt", sagt Berdahl. Lange Zeit galt die Annahme, dass alle Individuen einer Herde gleichermaßen einige wenige Daumenregeln befolgen, etwa: "Bleibe dicht bei dem Nachbarn, stoße aber nicht mit ihm zusammen". Solche Grundsätze seien tatsächlich wichtig für die kollektive Bewegung der Gruppe, bestätigen die Wissenschaftler. Darüber hinaus entscheiden aber zum Beispiel Alter und Geschlecht, wie ernst ein Tier nimmt, was sein Nachbar tut. Jungtieren geht es vor allem darum, dicht bei ihren Müttern zu bleiben.

Vor lauter Übereifer, nicht den Anschluss zu verlieren, scheren sie leicht einmal aus der Reihe. Erwachsene Bullen dagegen kümmern sich auffallend wenig um das Geschehen um sie herum. Sie machen ihr eigenes Ding und bringen damit die Ordnung ebenfalls durcheinander. Dass aus der Höhe insgesamt trotzdem das geordnete Bild einer sich kollektiv bewegenden Ameisenstraße entsteht, ist den übrigen erwachsenen Tieren zu verdanken. Sie orientieren sich hauptsächlich an den Individuen vor ihnen. Biegen diese leicht links ab, läuft die Information über diese Richtungsänderung wie eine Welle von vorn nach hinten durch die gesamte Herde.

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Damit legt die Karibu-Studie einen Teil der komplexen Dynamiken offen, die in großen Herden während der saisonalen Wanderung ebenso herrschen wie in kleineren Gruppen, die lediglich kurzfristig zur Futtersuche unterwegs sind. Jeder, der schon mal auf Klassenfahrt oder mit einer Busreise unterwegs war, kennt die Fragen, die auch Berdahl und seine Kollegen umtreiben: Hat jedes Mitglied der Gruppe gleich viel zu sagen? Wer bekommt unterwegs die besten Plätze - und wo befinden sich diese überhaupt?

Ist es ratsamer, sich bei anstehenden Entscheidungen eher zurückzuhalten mit seiner Meinung, um nicht verantwortlich zu sein, wenn das vorgeschlagene Restaurant geschlossen hat? Oder sollte sich ein Vegetarier, der die Gruppe vom Besuch eines Steakhauses abbringen will, nicht doch besser in die Diskussion einmischen? Gruppen bilden - erst recht wenn sie sich auf Reisen befinden - ein komplexes Geflecht aus Kompromissen, Einigungen und dem Zugeständnis, das jeder ruhig ein Stück seiner Individualität ausleben darf. Das gilt für Menschen und Karibus, Paviane und Kohlmeisen.

Die räumliche Position, die ein einzelnes Tier innerhalb seiner Gruppe einnimmt, beruht kaum einmal auf Zufall. Alter und Geschlecht spielen wie bei den Karibus häufig eine Rolle, aber auch die Persönlichkeit. Sage mir, wo du läufst, fliegst oder schwimmst, und ich sage dir, ob du ranghoch bist oder schwach, forsch oder schüchtern. Dominante Südliche Grünmeerkatzen zum Beispiel setzen sich bei der Futtersuche bevorzugt an die Spitze ihrer Gruppe. Dort ist ihr Risiko größer, dem Angriff eines Raubtiers zum Opfer zu fallen.

Doch wer als Grünmeerkatze kein Problem mit dem Selbstbewusstsein hat, der nimmt diesen Nachteil offenbar gerne in Kauf, um sich im Gegenzug selbst das beste Futter zu sichern. Wer vorne dran ist, frisst als Erster und das Beste. Umgekehrt wird ein Artgenosse, dem Konfliktvermeidung über alles geht, sich möglichst weit entfernt von einem dominanten und möglicherweise schlecht gelaunten Tier aufhalten.

Eine ähnliche Dynamik herrscht auch in anderen Primatengruppen, etwa unter Assam-Makaken. Dort ziehen sich Jungtiere und Mütter mit ihren Babys ins Innere der Gruppe zurück in dem Wissen, dass die Artgenossen um sie herum bei einem Angriff als lebendes Schutzschild dienen werden. Für Kohlmeisen bietet sich das Zentrum für jene Individuen an, die nicht selbst die Initiative ergreifen wollen. Umgeben sind sie von ihren Artgenossen an der Peripherie, die als proaktiv oder neugierig gelten. Auch die Lebenserfahrung beeinflusst, wo ein Tier seinen Platz in der Gruppe findet. Junge Rückenstreifen-Kapuzineraffen etwa achten darauf, bei der Futtersuche nach schwierig zu knackenden Nüssen stets im Blickfeld von erfahrenen Alttieren zu bleiben.

Besonders interessant sind die Spitzenpositionen. Wer vorne ist, führt - die Frage ist nur, warum. Bei Elefanten, Wölfen und Orkas beispielsweise setzen sich erfahrene und ranghohe Individuen an die Spitze der Gruppe und geben Bewegungsrichtung sowie Geschwindigkeit vor. Manchmal jedoch gelangt ein Individuum nicht wegen seiner ausgeprägten Führungsqualitäten an die Spitze, sondern wegen ganz anderer Charakterzüge. So finden sich unter Stichlingen oft jene Tiere vorne in einer Gruppe, denen wenig am engen Zusammensein mit Artgenossen liegt. An der Spitze ist es einsam - für ungesellige Stichlinge liegt darin keine Drohung, sondern ein Versprechen.

"In vielen Fällen werden Gruppenentscheidungen nicht vom Anführer diktiert"

Ein weiterer Wesenszug, der den Weg an die Spitze erleichtern kann, ist ein beträchtliches Maß an Kühnheit. Tauben, die sich gemäß eines speziell entwickelten Tests als besonders dreist erwiesen hatten, flogen im Durchschnitt schneller als schüchterne Artgenossen, befanden sich im vorderen Feld der Gruppe und hatten zugleich einen höheren sozialen Status als zurückhaltendere Tiere. Das berichten Forscher um Takao Sasaki von der University of Oxford in ihrem Beitrag zum aktuellen Themenschwerpunkt.

Über Ursache und Wirkung ihrer Erkenntnisse rätseln die Autoren jedoch noch: Sind forsche Tauben wegen ihrer höheren Geschwindigkeit erst einmal an die Spitze der Gruppe gelangt, könnten sie auch allein deshalb, also eher zufällig, zu Anführern werden. In jedem Fall dient die Studie als Beispiel dafür, dass vielen Gruppen nicht ein einziges Individuum vorsteht, sondern ein mehrköpfiges Führungsteam die Entscheidungen fällt. So besteht bei Tauben der Zusammenhang zwischen Kühnheit, Fluggeschwindigkeit und Entscheidungsgewalt nicht nur für das Tier ganz vorne, sondern auch für die Vögel auf den nachfolgenden Plätzen.

Umgekehrt ist, wer wirklich Autorität besitzt, nicht unbedingt auf eine räumliche Spitzenposition angewiesen. Wahre Führungsqualitäten lassen sich auch vom Mittelfeld aus beweisen, wenn nur das soziale Netzwerk stimmt. In einer älteren Studie ignorierte eine Gruppe Anubis-Paviane zahlreiche Aufforderungen zum gemeinsamen Aufbruch, die von Möchtegern-Anführern stammten. Diese liefen sozusagen schon einmal vor und hätten sich an der Spitze ihrer Gruppe befunden - wenn diese denn nur gefolgt wäre. Stattdessen blieben die meisten Tiere, wo sie waren. Erst als sich ein altes, offenbar sehr angesehenes Weibchen erhob, nahm der Rest der Gruppe das als Signal zum Aufbruch.

Damit untermauerten die Paviane eine einfache Wahrheit: "In vielen Fällen werden Gruppenentscheidungen nicht vom Anführer diktiert, sondern von seinen "Followern", schreiben Ariana Strandburg-Peshkin vom Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell und ihre Kollegen in den Philosophical Transactions B. "Die Initiatoren machen Vorschläge für Zeitpunkt und Richtung der Reise, aber es ist ihre Gefolgschaft, die letztendlich beschließt, wann und wohin sich die Gruppe bewegt."

© SZ vom 29.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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