Zwischen Wunsch und Wirklichkeit tut sich mitunter eine tiefe Kluft auf. Am Sonntag wird man wieder einmal in so einen rabenschwarzen Abgrund hineinblicken können, wenn der Weltklimarat IPCC den dritten und letzten Teil seines aktuellen Berichts vorlegt. Es geht darin um Handlungsmöglichkeiten gegen den Klimawandel - davon gäbe es einige, nur getan wird wenig. Sogar im Energiewendeland Deutschland verzagen viele. Mehr Klimaschutz? Geht nicht. Viel mehr erneuerbare Energie? Geht nicht. Verkehr ohne Benzin und Diesel? Geht nicht. Ein klimaneutrales Industrieland? Geht schon gar nicht.
Geht doch, sagt das Umweltbundesamt. In einer Studie, die demnächst veröffentlicht werden soll, beschreibt es ein Deutschland, dessen Treibhausgas-Emissionen 2050 im Vergleich zu 1990 auf ein Zwanzigstel geschrumpft sind. Und das faszinierendste an der Utopie ist, dass sie sich gar nicht so sehr von der Gegenwart unterscheidet - jedenfalls nicht im Alltag. Zwei Jahre wurde im Uba an dem Szenario gearbeitet. Die Annahme: Im Grunde geht es weiter wie bisher, mit wachsender Industrie und sogar noch etwas mehr Verkehr als heute. Nur eben klimaneutral. "Es sollte niemand sagen können: Da muss man erst die Menschen ändern", sagt Uba-Fachbereichsleiter Harry Lehmann. "Man wird immer an ideologischen Punkten angegriffen."
Darum spart die Studie die heikle Frage nach dem richtigen Lebensstil aus; nur bei der Ernährung nehmen die Autoren an, dass die Menschen weniger Fleisch essen als heute. "Wir sagen nicht, dass es so kommen wird, oder muss", sagt Lehmann. Aber es könnte eben, und er ist sogar optimistisch, dass Deutschland in einigen Jahrzehnten gar nicht mehr so weit weg ist von der Klimaneutralität, auf die eine oder andere Weise.
Die Welt im Jahr 2050, wie das Uba sie entwirft, braucht vor allem viel Strom: Der soll auch - unter anderem per Wärmepumpe - Häuser heizen, und Autos antreiben. Zwar soll nur ein kleiner Teil der Autos rein elektrisch unterwegs sein - die weitaus meisten Fahrten absolvieren Hybridautos. Aber statt mit herkömmlichem Treibstoff sollen sie bis 2050 vor allem mit synthetischen Flüssigkraftstoffen fahren. Also eine Art künstlicher Benzin- oder Diesel-Ersatz, hergestellt aus Wasserstoff, der mit überschüssigem grünen Strom aus Wasser abgetrennt wird. Biokraftstoffe aus eigens angebauten Energiepflanzen sollen wegen der Konkurrenz mit der Nahrungsmittelerzeugung im Jahr 2050 nicht mehr eingesetzt werden. Stattdessen kommen Reststoffe zum Einsatz, aber weit reichen sie nicht: Selbst wenn man alle festen Abfälle zu Biokraftstoff verarbeiten würde, könne das nur ein "begrenzter Beitrag" zum Bedarf des Verkehrs sein - die Studie kommt auf nicht einmal ein Siebtel.
Obwohl der Energieverbrauch insgesamt etwa halbiert werden soll, vor allem durch mehr Effizienz bei Haushalten und Industrie, würde sich der Stromverbrauch mehr als verfünffachen, auf etwa 3000 Terawattstunden. So viel Strom kann allein in Deutschland nicht aus Wind und Sonne erzeugt werden. 62 Prozent des Verbrauchs müssten also importiert werden, ähnlich wie Steinkohle und Erdöl heute.
Das Szenario ist ausdrücklich nicht als Blaupause, sondern eher als Diskussionsgrundlage gedacht, auch für internationale Klimaverhandlungen. "Unsere Studie zeigt, dass ein hoch entwickelter Industriestandort wie Deutschland ambitionierte Klimaschutzziele erreichen kann", sagt der amtierende Uba-Präsident Thomas Holzmann. Die langfristigen Ziele erforderten aber eine erhebliche Umstrukturierung in allen Wirtschaftsbereichen - und ein gesellschaftliches Umdenken.
Die Wirklichkeit sieht anders aus. Als die Bundesregierung jüngst Daten über das Fortkommen der Energiewende vorlegte, musste sie auch das Versagen im Klimaschutz einräumen. Mit den bisherigen Maßnahmen, legte sie dar, werde sich wohl nicht einmal das Ziel bis 2020 erreichen lassen: eine Minderung der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent, verglichen mit 1990. Die Experten, die die Daten der Regierung überprüften, reagierten alarmiert. "Um das auch im Koalitionsvertrag noch einmal bekräftigte Treibhausgasziel für 2020 noch zu erfüllen", so ist in ihrer Stellungnahme zum Regierungsbericht zu lesen, "müssten ab heute die Emissionen jährlich doppelt so stark reduziert werden wie im Durchschnitt der Jahre von 2008 bis 2012."
Denn was heute nicht erreicht wird, kommt morgen obendrauf. Die Dimension für die Jahre 2020 bis 2050 lieferte die vierköpfige Expertengruppe auch gleich mit: Um den Kohlendioxid-Ausstoß bis 2050 nahezu komplett zu beenden, müsste der Rückgang von 2020 an jährlich 7,9 Prozent betragen - ein ambitioniertes Unterfangen, zwischen 1990 und 2012 waren es im Schnitt nur 1,3 Prozent pro Jahr.
"Wir sind in eine Stillstands-Phase getreten", warnt Hans-Joachim Ziesing, einer der vier von der Bundesregierung eingesetzten Experten. Um dort herauszukommen helfe nur eins: Effizienz. "Das ist die entscheidende Größe, um die Klimaziele zu erreichen", sagt er. Das wiederum gelinge nur, wenn Verkehr und Gebäude ihren Energieverbrauch drastisch reduzieren - hier durch sparsamere Autos, neue Antriebe und mehr Bahnverkehr, dort durch besser gedämmte Häuser und effizienteren Umgang mit Wärme und Strom. Etwa so also, wie es auch die Uba-Studie vorsieht.
Derzeit tüftelt die Bundesregierung an einem Plan, um das 40-Prozent-Ziel doch noch zu erreichen. "Wir werden unsere Anstrengungen erhöhen müssen", sagt Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Andernfalls lande Deutschland 2020 bei einem Minus von 33 bis 35 Prozent. Nötig sei ein "ressortübergreifendes Aktionsprogramm", das auch Bau und Verkehr umfasst. "Sonst werden wir es nicht schaffen." Dann bliebe auch das klimaneutrale Deutschland im Jahr 2050 eine schöne Utopie: theoretisch möglich, praktisch nicht.