SZ-Klimakolumne:Immer der Aufmerksamkeit nach

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Die sogenannte "Letzte Generation vor den Kippunkten" (Foto: IMAGO/Andreas Friedrichs/IMAGO/A. Friedrichs)

"Die letzte Generation" nennt sich jetzt "Die letzte Generation vor den Kipppunkten". Guter Name?

Von Vera Schroeder

Seit es Klimaproteste gibt, wird ihnen vorgeworfen, überzudramatisieren. Die naive Apokalypse-Panik einer Greta Thunberg, die weltfremden Endzeitszenarien der Fridays für Future und nun auch noch die politikferne Sturheit der Gruppe "Die letzte Generation", die sich jetzt sogar - schlimmer geht immer - in ihrer Langform "Die letzte Generation vor den Kipppunkten" nennt. Haben die denn nie die alte Tantenweisheit gelernt, dass Dinge nicht dadurch richtiger werden, dass man sie immer lauter herausschreit?

Wer so argumentiert, hat einerseits recht. Tatsächlich vermischen Klimaprotestierende verschiedenster Lager trotz aller "Follow the science"-Plakate immer mal wieder den gesicherten Stand der Wissenschaft mit sehr viel wackeligeren Aspekten der Klimawandelfolgenforschung oder Worst-Case-Szenarien, die naturgemäß mit großen Unsicherheiten verbunden sind. Gerade die Kipppunktetheorien sind da so eine Sache. Mit Kippelementen sind Schwellen gemeint, die unaufhaltsam oder zumindest für lange Zeit irreversibel den aktuellen Zustand verändern, wenn sie erst einmal überschritten sind. Wie die Murmel auf der Wippe sozusagen.

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Aber welche Kipppunkte in Klimadiskussionen genau gemeint sind, ob physikalische oder sozioökonomische, bleibt oft offen. Und von den in einer Studie aus dem Jahr 2008 beschriebenen ursprünglich neun "Kippelementen des Klimasystems der Erde" gelten zumindest einige heute als nicht mehr haltbar und viele weitere als wenig erforscht.

Martin Claußen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg erklärte dem Science Media Center zuletzt dazu: "Laut einer Übersichtsstudie sind nur zwei der aktuell diskutierten Kippelemente im Klimasystem gut bis sehr gut verstanden, die aber eigentlich keine Klimakipppunkte sind: der Verlust tropischer Korallenriffe und der Verlust des arktischen Sommermeereises. Der Verlust tropischer Korallenriffe hat im Wesentlichen sozioökonomische Folgen. (..) Das arktische Sommermeereis ist im Gegensatz zu früheren Vermutungen kein Kippelement, denn es verschwindet im gleichen Tempo, mit der die Klimaerwärmung in dieser Region voranschreitet, und kehrt bei einer Klimaabkühlung wieder zurück. (...) Wann und wie das arktische Meereis ganzjährig, auch im Winter, verschwinden könnte, also ob das arktische Meereis insgesamt ein Kippelement ist, ist noch nicht geklärt. Am unsichersten zu beantworten ist die Frage nach der Kaskade von Kippelementen, die durchaus zu erheblichen Klimaänderungen führen könnte. Hierzu liegen aber nur einfache, eher konzeptionelle mathematische Modelle vor."

Heißt in kurz: Ein Eskalieren verschiedenster Kippelemente ist theoretisch vorstellbar - aber vieles daran ist noch unklar.

Und heißt gleichzeitig auf keinen Fall: alles halb so schlimm.

Das ist nämlich andererseits die Gefahr in einer Welt, in der der Finanzminister einer der reichsten Industriestaaten twittert: "Bevor wir über soziale und ökologische Ziele in dieser Gesellschaft diskutieren, müssen wir uns vergewissern, dass unser wirtschaftliches Fundament funktioniert". Und zwar in den gleichen Wochen, in denen feststeht, dass Europa im vergangenen Jahr den heißesten Sommer seiner Geschichte erlebte, nicht nur in Thailand Rekordtemperaturen gemessen werden und die globalen Meerestemperaturen derart ungewöhnlich nach oben entgleiten, dass der im Allgemeinen eher unaufgeregte Klimawissenschaftler Anders Levermann den Satz bemüht: "Wir verlassen den Klimabereich, den wir kennen und kommen immer mehr in unbekanntes Terrain."

Insofern lässt sich auch jede Protestbewegung verstehen, die mit allem schreit, was möglichst drastisch klingt. Weil das könnte man ja auch mal lernen, sozusagen als Tantenweisheit der Zukunft: Wer ein lebenswertes Klima und "das wirtschaftliche Fundament" gegeneinander ausspielt, wird am Ende beides verlieren.

(Dieser Text stammt aus dem wöchentlichen Newsletter Klimafreitag, den Sie hier kostenfrei bestellen können.)

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