Kanada:"Wir haben eine Waldkrise"

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Eine Anwohnerin beobachtet Mitte August in der Stadt West Kelowna in British Columbia einen Waldbrand. (Foto: Darren Hull/AFP)

Holzkonzerne und Waldbrände gefährden im Westen Kanadas einige der letzten gemäßigten Regenwälder der Erde. Vor allem indigene Gruppen setzen sich nun erfolgreich dagegen zur Wehr.

Von Petra Krumme

Der Centennial Square in Victoria ist voller Menschen. Tausende sind an diesem Februartag dem Aufruf zahlreicher Organisationen gefolgt, sie trommeln, schwenken Transparente und Tier-Porträts. Es ist eine der größten Demonstrationen für den Erhalt der Mammutbäume, die die kanadische Provinz British Columbia gesehen hat. Dass dort im Sommer knapp 2000 Waldbrände wüten werden und die Provinz deshalb den Notstand ausrufen wird, weiß man an diesem Tag noch nicht.

"Danke, dass ihr gekommen seid und ein Zeichen setzt", sagt der indigene Chief David Knox von der Kwakiutl First Nation durchs Mikro. "Der Erhalt der alten Bäume ist so wichtig für uns Menschen, um auf dieser Erde lebensfähig zu sein."

In British Columbia sind ein Viertel der raren gemäßigten Küstenregenwälder der Welt zu finden, im Binnenland der noch seltenere gemäßigte Inlandsregenwald. In den letzten 20 Jahren ist die Fläche der dortigen Primärwälder jedoch um knapp die Hälfte geschrumpft, auf 13,2 Millionen Hektar. Nur ein Prozent der Waldfläche, 415 000 Hektar, ist noch hochproduktiver alter Wald, auf noch weniger Fläche finden Mammutbäume gute Bedingungen. Waldflächen sind häufig aufgesplittert in kleine, oft unter zwei Hektar große Flecken oder durchzogen von Industrie. Wissenschaftler betonen: Die hochproduktiven Ökosysteme British Columbias sind extrem gefährdet.

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Dabei liegt im Erhalt der Primärwälder ein Schlüssel, um nicht nur Waldbränden, sondern auch der Klimakrise etwas entgegenzusetzen. Sie binden 30 bis 50 Prozent mehr Treibhausgase als Forstwälder und erhöhen die Wasserspeicherfähigkeit des Bodens, was vor Feuer, Erdrutschen und extremen Wetterereignissen schützt. Sie bieten wertvolle Lebensräume, etwa für Waldkaribus. Doch nur noch 15 der 51 Herden haben ausreichend Habitat, um langfristig zu überleben.

Heute ist der Wald größtenteils in den Händen weniger Unternehmen

16 Prozent aller Primärwälder auf der Erde liegen in Kanada. "Die Entscheidungen, die Kanada in den nächsten Jahren bezüglich seiner Primärwälder trifft, werden grundlegende Auswirkungen auf die globale Klima- und Diversitätskrise haben", schreiben 90 internationale Wissenschaftler in einem offenen Brief an die kanadische Regierung.

Doch die teils über 800 Jahre alten Douglasien, Sitka-Fichten und Zedern, deren Stämme mehrere Meter Umfang haben können, bringen dreimal so viel Geld ein wie das Holz jüngerer Bäume. Laut Provinzregierung ist auch die nächsten Jahrzehnte Holz aus Primärwäldern fest eingeplant. Holz sorgt für umgerechnet 900 Millionen Euro Steuereinnahmen pro Jahr und 50 000 Jobs.

Der Waldschwund hat sich seit 150 Jahren angebahnt. In einem Land, das sich die Provinz British Columbia im 19. Jahrhundert fast gänzlich ohne Verträge mit den First Nations aneignete, bekamen Forstunternehmen Lizenzen, um es zu erschließen und Jobs zu schaffen. Es begann an der Küste, wo es feuchter ist und die großen Bäume wachsen. Erst vor etwa 60 Jahren ging es im Binnenland richtig los. Dort verlief die Abholzung wegen des leichter zugänglichen Terrains und moderner Maschinen schneller. Heute ist der Wald größtenteils in den Händen weniger Unternehmen. Und wegen Überholzung, Bränden und Borkenkäfern ist er fast überall in einem alarmierenden Zustand.

"Wir haben eine Waldkrise", sagt Ben Parfitt, Autor und Analyst beim Canadian Centre for Policy Alternatives. In der Branche herrsche eine "Cut and run"-Mentalität: Schon in den 1990ern sahen Firmen wie MacMillan Bloedel voraus, dass es in Kanada bald vorbei sein würde, und begannen in den Südstaaten der USA zu investieren, wo Plantagen viel schneller wachsen. Viele Firmen folgten. Nun sterben in British Columbia ganze Ortschaften aus, die für die Holzproduktion entstanden waren. Die verbliebenen Firmen drängen für Rodungen in abgelegenste Regionen.

Doch besonders die majestätischen Riesenbäume sind ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt - auch durch Proteste wie im Fairy-Creek-Camp 130 Kilometer nördlich von Victoria auf Vancouver Island. 2021 stellten sich Aktivisten dem Holzkonzern Teal-Jones entgegen, die Polizei nahm mehr als 1000 Personen fest. Es kam schließlich auf Bitten von drei angrenzenden First Nations zu einem Rodungsaufschub für Fairy Creek, der dieses Jahr bis 2025 verlängert wurde.

Es gibt Alternativen zur industriellen Forstwirtschaft

Das immer sichtbarere Ausmaß der Rodungen hat die Regierung der Provinz dazu gebracht, die alten Bäume auf ihre Agenda zu setzen. 2020 gab sie eine Studie in Auftrag, die zu einem gewissen Umdenken geführt hat. 1500 besonders große Bäume wurden unter Schutz gestellt, für 196 000 Hektar ein Moratorium beschlossen. Im Austausch mit First Nations und Industrie soll ein Aktionsplan entwickelt werden.

Für die mehr als 200 First Nations in British Columbia ist die Situation schwierig: Will die Regierung Land zurückgeben, setzt sie sich Entschädigungsforderungen der Industrie aus. Bereits seit drei Jahrzehnten versuchen staatliche Stellen, Indigene einzubeziehen. Wer nicht mitmacht, erlebt, wie der Wald um die Community herum ausgebeutet wird, ohne etwas zu erhalten. Wer mitmacht, lässt sich auf die industrialisierte Holzwirtschaft ein - was der traditionellen Landpflege entgegensteht.

Die Pacheedaht First Nation kooperiert mittlerweile mit dem Konzern Teal-Jones, nachdem sie viel Wald verloren hatte, ohne selbst zu profitieren. Die Indigenen nutzen nun die Einnahmen aus Holzverkäufen, um ihr eigenes Land zurückzukaufen. In einem kleinen Sägewerk werden Baumstämme verarbeitet, daneben siedeln sie in einem wissenschaftlich begleiteten Projekt wieder Lachse an. Die Forstwirtschaft hatte die Flussufer zerstört, nun werden dort Gräser angepflanzt, um Insekten und Lachse anzuziehen.

Das Problem bei der konventionellen Vorgehensweise von Forstunternehmen wie Teal-Jones sei der Kahlschlag, sagt die Forstökologin Suzanne Simard von der University of British Columbia. Ein intaktes Waldsystem könne sich erstaunlich schnell erholen. Wenn aber alles abgeholzt werde, dann sei auch im Boden alles tot.

Eine Alternative ist selektives Forsten. Weil das gezielte Roden einzelner Bäume oft von Hand gemacht wird, bedeutet das mehr Jobs. Werden diese Stämme dann lokal verarbeitet und verkauft, profitieren Gemeinden vor Ort. Oft seien diese Wälder derart gesund, dass man auf den ersten Blick gar nicht erkenne, dass in ihnen Bäume gefällt werden, berichtet Parfitt. Er beklagt, dass diese positiven Beispiele in Politik und Öffentlichkeit viel zu wenig Berücksichtigung fänden. Selbst bei von Käfern befallenen Wäldern stelle sich die Frage, ob ein Kahlschlag nötig sei. In British Columbia wurde beobachtet, wie in ihnen junge gesunde Bäume nachwuchsen.

Viele Experten sehen die einzige Lösung in einer Neustrukturierung des Landes: mit Schutzzonen für Primärwald, Revitalisierungszonen für gerodete Flächen, selektiv genutzten Wäldern, die waldbrandresilient sind und die Wasserquellen schützen, sowie Flächen für die Forstindustrie.

"Dieser Richterspruch ist etwas in Nordamerika bisher nie Dagewesenes"

Einen eigenen Weg geht die 160-köpfige Nuchatlaht First Nation. Der Wald ihres Landes ist zu 80 Prozent abgeholzt, jetzt versuchen die Indigenen, das Land gerichtlich zurückzuerhalten. Die First Nation nutzt seit Jahrtausenden Baumstämme für Kanus und Rinde für Kleidung, Körbe oder zeremonielle Gegenstände. An den Stellen, wo die Rinde abgezogen wird, heilen die Stämme wieder zu. Diese Bäume sind nun Beweismittel im Prozess, sie sollen die historischen Ansprüche der Nuchatlaht untermauern.

Ein sechs Jahre langes Gerichtsverfahren führte in diesem Sommer zu einem spektakulären Ergebnis: Der Richter bestätigte, dass den Indigenen das Land gehöre. Es seien aber nicht für die ganze geforderte Fläche ausreichend Beweise einer Besiedlung vorgelegt worden. Nun steht die Gemeinschaft vor der Wahl, weniger zu beanspruchen oder in Berufung zu gehen. Es geht um rund 200 Quadratkilometer eines der atemberaubendsten Teile von Vancouver Island.

Jack Woodward vertritt die Community vor Gericht: "Dieser Richterspruch ist etwas in Nordamerika bisher nie Dagewesenes", sagt der Jurist. Woodward sieht den Prozess als Auftakt für einen Dekolonialisierungsprozess in Kanada. Wenn die ganze Küste mit ihren Wäldern, Wasserläufen, Lachsen, Bären und Walen wieder in indigener Hand sei, gebe es da zwar vielleicht auch Leute, für die der Profit an oberster Stelle stehe. "Aber sie haben die Verbindung zum Land. Und im Großen und Ganzen werden sie es besser verwalten, als es momentan der Fall ist."

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