Der Menschenverstand ist ein paradoxes Phänomen. Auf der einen Seite wird er stets in die Debatten-Arena geworfen, wenn es vermeintlich an ihm mangelt. Auf der anderen Seite servieren die Diskutanten den Menschenverstand stets mit dem Hinweis, dass er ja gesund sei, also quicklebendig, präsent und anwesend. Die Floskel schwirrt seit langer, langer Zeit durch die Öffentlichkeit und wird von Menschen jeglicher politischer Überzeugung verwendet. Eine wirklich sehr oberflächliche Google-Kurzrecherche ergibt, dass der Bundesvorsitzende der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, gerne den gesunden Menschenverstand beschwört, ebenso die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP). Konrad Adenauer, Angela Merkel und sogar Ex-Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) haben sich mindestens einmal auf den Menschenverstand berufen. Dessen Abwesenheit wird derweil in zig Zeitungskommentaren dem jeweiligen Gegenstand der Berichterstattung unterstellt: den Grünen, künstlicher Intelligenz oder auch der ganzen Glyphosat-Debatte. Aber, mal ganz grundsätzlich gefragt: Was ist dieser gesunde Menschenverstand überhaupt - und gibt er sich zu erkennen, wenn er anwesend ist?
Gerade haben die Sozialwissenschaftler Mark Whiting und Duncan Watts von der University of Pennsylvania im Fachjournal PNAS eine Arbeit veröffentlicht, die sich mit diesen Fragen beschäftigt. Zunächst die kurze Antwort, die sie geben: Der gesunde Menschenverstand, beziehungsweise auf Englisch "common sense", ist mutmaßlich für jeden Menschen etwas anderes. Es handele sich um Ansichten und Überzeugungen, die für einen Einzelnen bedeutend sind und daher offensichtlich wirken. Daraus leiten Menschen ab, dass die meisten anderen das auch so sehen müssten oder gefälligst so sehen sollten. Das gelte unabhängig von Faktoren wie Alter, Geschlecht, Einkommen oder politischer Überzeugung. Der gesunde Menschenverstand wäre demnach so etwas wie die persönliche Wahrheit einzelner Personen, der sich doch bitteschön auch der Rest der Welt anschließen möge.
Nur wenige vermeintlich allgemein akzeptierte Meinungen werden wirklich von vielen geteilt
Die beiden Wissenschaftler legten 2046 Probanden insgesamt 4407 Aussagen vor, die als Beispiele für gesunden Menschenverstand galten. Wobei die Forscher streng genommen nach "common sense" fragten. Dieser Ausdruck ist nicht zu 100 Prozent deckungsgleich mit dem deutschen "gesunden Menschenverstand"; der englische Ausdruck betont stärker, dass eine bestimmte Aussage Allgemeingut sei. In Debatten werden beide Begriffe jedoch ähnlich verwendet.
Die Aussagen, die die Forscher bewerten ließen, deckten eine breite Spanne ab. Unter ihnen fanden sich reine Feststellungen ("Dreiecke haben drei Seiten"), Aphorismen ("Unhöflichkeit ist die Stärke des kleinen Mannes") und auch Handlungsempfehlungen ("Bei Sportveranstaltungen sollte kein Alkohol an Fans verkauft werden"). Die Probanden mussten bewerten, ob etwas allgemein akzeptiert sei beziehungsweise ob sie mit einer Aussage übereinstimmten und ob das für die meisten anderen Menschen auch gelte. Dabei zeigte sich, dass nur eine geringe Zahl der vorgelegten Aussagen von mehr als einer geringen Anzahl an Menschen akzeptiert wurde.
Als "common sense" oder gesunder Menschenverstand in dem Sinne, dass eine große Mehrheit eine Überzeugung teilt, dürften demnach fast nur Aussagen über objektiv wahre Dinge gelten, wie zum Beispiel die Sache mit dem Dreieck und den drei Seiten. Am Ende bleibt die Nachricht, dass jeder und jede das als gesunden Menschenverstand bezeichnet, was ins eigene Weltbild passt.