Pandemie:Tief durchatmen

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Getestet wird, wenn überhaupt, fast nur noch im privaten Rahmen: Geschlossene Covid-19-Teststation in Berlin. (Foto: Jochen Eckel/IMAGO)

Die meisten erleben Covid mittlerweile nur noch als Erkältung oder leichte Grippe. Deshalb sehen Gesundheitsexperten die neue Lässigkeit im Umgang mit dem Virus ganz entspannt. Ein Umstand aber bereitet ihnen doch Kopfzerbrechen.

Von Christina Berndt

Es sei an der Zeit, erneut den internationalen Gesundheitsnotstand auszurufen - die höchste Alarmstufe, die die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kennt. Diese Forderung haben gerade 200 medizinische Fachzeitschriften synchron in ihren Leitartikeln formuliert. Doch bei ihrem Weckruf ging es nicht um Corona. Das Ende des Gesundheitsnotstands wegen der Pandemie hat die WHO erst vor wenigen Monaten, im Mai 2023, verkündet. Vielmehr haben die Fachleute die weltweiten gesundheitlichen Bedrohungen durch den Klimawandel und den Artenschwund im Auge. Die Pandemie - sie ist längst abgelöst worden von anderen Krisen, die die Gesundheit der Menschen weltweit bedrohen.

Aber wie steht es um die Gesundheit von besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen, also Männern und Frauen jenseits der 60, und deren Bedrohung durch das Coronavirus? Auch da ist die Lage nicht mehr so dramatisch, darin sind sich Fachleute im Großen und Ganzen einig: Landauf, landab sehen Virologinnen und Immunologen, Infektiologen und Epidemiologinnen der kalten Jahreszeit einigermaßen entspannt entgegen.

Aus dem unbekannten, brandgefährlichen Erreger ist ein alter Bekannter geworden

Im Herbst 2023 ist das Coronavirus Sars-CoV-2 von einem unbekannten, neuen, brandgefährlichen Erreger, dem man zunächst wenig entgegenzusetzen hatte, zu einem alten Bekannten geworden, noch dazu einem, wenn man so will, etwas schwächelnden Erreger. Mittlerweile hatten die allermeisten Menschen in Deutschland mit ihm schon persönlichen Kontakt. Bei bayerischen Kindern weiß man das sehr genau: Im Rahmen einer Studie des Helmholtz-Zentrums München wurde in der Pandemie regelmäßig untersucht, wie viele Kinder schon einmal infiziert waren. "Im April wurde dies beendet, weil inzwischen 98 Prozent aller Kinder zwischen zwei und zehn Jahren positiv auf Corona getestet waren", sagt Dominik Ewald, Vorsitzender des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzte Bayern. Dreieinhalb Jahre nach Beginn der Pandemie kann man also sagen: Mit Ausnahme von immungeschwächten Patientinnen und Patienten haben all jene, die nicht an Corona gestorben sind, mittlerweile Immunität aufgebaut. Zwei Drittel der Bevölkerung durch Impfungen und viele weitere, weil sie sich mindestens einmal infiziert haben.

Das ist auch der Grund, weshalb Lars Schaade, der neue Präsident des Robert-Koch-Instituts (RKI), nicht davon ausgeht, dass er demnächst so bekannt sein wird wie sein in der Pandemie stets präsenter Vorgänger Lothar Wieler: Er sehe "im Moment keine Situation auf uns zukommen, die auch nur annähernd vergleichbar wäre mit den vergangenen Jahren", sagte Schaade kürzlich der Zeit. Mit Sars-CoV-2 gebe es jetzt zwar einen weiteren Atemwegserreger im Repertoire der Viren, dieser werde die meisten Menschen aber "nicht mehr stark beeinträchtigen".

Dass Covid für den Großteil der Bevölkerung mittlerweile "wie eine Erkältung oder manchmal wie eine Grippe sei", wie dies der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité vor Kurzem ebenfalls in der Zeit formuliert hatte, will Schaade hingegen nicht so stehen lassen: "Über das Wort Erkältung kann man streiten", sagte er - schon deshalb, weil das Coronavirus Long Covid auslösen könne und die Blutgefäße angreife.

Die neue Lässigkeit im Umgang mit Corona herrscht aber natürlich nur, solange das Virus in etwa so bleibt, wie es ist. Beobachten müsse man die Entwicklung in jedem Fall, so Schaade. Denn auch wenn das Virus aus den Schlagzeilen verschwunden ist: Es verändert sich immer noch - und es ist gut möglich, dass das auch mal zum Negativen geschieht. Laut dem jüngsten Wochenbericht der Arbeitsgemeinschaft Influenza am RKI kursiert derzeit vor allem die Corona-Variante EG.5 (auch Eris genannt), sie fand sich Anfang Oktober in fast der Hälfte der näher untersuchten Proben. Die stark mutierte Variante BA.2.86 (Pirola) lag hingegen nur in zwei Prozent der Proben vor. Diese Variante hatte Fachleuten zuletzt durchaus Sorgen bereitet, denn sie "ist genetisch immerhin so weit von Omikron entfernt wie Omikron damals von Delta", sagt Christian Drosten. Dem Immunschutz entkommt Pirola trotzdem nicht besser als die bisherigen Viren - auch hier gibt es also vorläufig Entwarnung.

Zuletzt ist die Zahl der bestätigten Corona-Infektionen deutlich angestiegen

Insofern muss es die große Allgemeinheit also nicht weiter beunruhigen, dass die Zahl der laborbestätigten Corona-Infektionen in Deutschland zuletzt deutlich angestiegen ist. Laut RKI-Bericht wurden in der vergangenen Woche rund 13 130 Fälle gemeldet - nach etwa 12 900 und rund 10 000 in den beiden Wochen zuvor. Im Herbst steige generell die Zahl der mit Atemwegserkrankungen infizierten Menschen, sagt Ulrike Protzer, die Direktorin der Virologie am Helmholtz-Zentrum und der TU München. "Man sieht eine Zunahme der Infektionen mit allen Atemwegserregern, auch mit dem Coronavirus." Das Virus gehöre inzwischen dazu, und es werde die Menschen in Europa vermutlich in den nächsten Jahren "jeden Herbst beglücken".

Allerdings geben die Zahlen der laborbestätigten Fälle nur einen Trend an. Weil die Testzentren längst geschlossen wurden, ist die Dunkelziffer unentdeckter Infektionen hoch. Die wenigsten Menschen mit Krankheitssymptomen testen sich noch - und wenn, dann in der Regel bei sich zu Hause. Bessere Hinweise auf die Infektionslage gibt mittlerweile das Abwasser. In mehreren Regionen, am intensivsten in Bayern, wird in den Kläranlagen regelmäßig nach Virusresten gesucht. Weil sich Sars-CoV-2 auch am Darm des Menschen zu schaffen macht, gerät es mit dem Toilettengang in die Kanalisation. Das Abwasser kann deshalb viel über die Viren in der Bevölkerung verraten - sogar bevor die Menschen Symptome entwickeln. So sah man mithilfe des Abwassers, wie in München die Corona-Zahlen nach dem Oktoberfest regelrecht in die Höhe schossen. "Ich sehe Abwasser als das vielleicht demokratischste Untersuchungsmaterial, das wir haben, denn jeder nimmt daran teil, und es ist anonym", sagt der Infektionsmediziner Andreas Wieser von der LMU. Und weil die gefundenen Erbgutbruchstücke der Viren sequenziert werden, sehen Fachleute auch gleich, welche Varianten dominieren und ob sich neue ausbreiten.

Trendkategorien: "ansteigend" (definiert als Anstieg um mehr als 15 % zur Vorwoche), "unverändert" (Veränderung zwischen -15 % und 15 % zur Vorwoche) und "fallend" (Rückgang um mehr als 15 % zur Vorwoche). (Foto: SZ-Grafik; Quelle: RKI, Amelag)

Wie sehr die Menschen unter den gefundenen Viren leiden und ob also wirklich Gefahr im Verzug ist, darüber kann das Abwasser allerdings keinen Aufschluss geben. Dazu braucht es eine Auswertung der belegten Krankenbetten. Auch die steigt, wie der Corona-Pandemieradar der Bundesregierung zeigt. Derzeit müssen 5,0 von 100 000 Einwohnern wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden, in der Vorwoche waren es noch 3,6. Betroffen sind vor allem ältere Menschen: Von den über 80-Jährigen kamen zuletzt 32 von 100 000 Einwohnern wegen Covid-19 ins Krankenhaus.

Gerade ältere Menschen sollten sich deshalb unbedingt erneut gegen Corona impfen lassen - und am besten auch gleich gegen Influenza, empfiehlt die Virologin Protzer. Angeraten sei ein an die neuen Corona-Varianten angepasster Impfstoff. Das verbreitere die Immunität auch noch einmal gegen weitere Überraschungen, die das Virus womöglich gerade ausheckt. Denn seine Evolution ist noch nicht vorbei. Fast alle derzeit kursierenden Viren seien immer noch Abkömmlinge von Omikron - und damit "superansteckend", wie Ulrike Protzer sagt. "Die Viren sind zum Glück nicht mehr gefährlicher geworden, aber immer ansteckender."

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