Anthropologie:"Neandertaler waren Beute für diese Tiere"

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In der Guattari-Höhle zwischen Rom und Neapel haben Wissenschaftler erneut Überreste von Neandertalern gefunden. Hier sind Schädelknochen, ein Kiefer mit Kinn, der Mittelknochen eines Daumens der rechten Hand und der Schaft eines rechten Oberschenkelknochens zu sehen. (Foto: dpa)

Archäologen haben in einer Höhle in Italien Überreste von neun Neandertalern entdeckt. Der spektakuläre Fund könnte verraten, wie die Frühmenschen lebten - und vor welchen Feinden sie sich fürchten mussten.

Von Hubert Filser

Schädelkappen, gebrochene Kieferknochen, zwei Zähne, ein Teil eines Daumenknochens der rechten Hand und Dutzende kleinere Splitter: Diese menschlichen Überreste aus der Guattari-Höhle nahe dem italienischen Terracina gehören zu insgesamt neun Individuen, sieben Männern, einer Frau und einem kleinen Jungen. Einen derartigen Fund von Neandertalerknochen gab es in Italien noch nie. "Es ist eine spektakuläre Entdeckung", sagt Mario Rolfo, Archäologe an der Universität Tor Vergata in Rom. Er und seine Kollegen glauben, dass die meisten Individuen von Hyänen erbeutet oder gar getötet und dann in die Höhle geschleppt wurden. Acht Personen wurden auf die Zeitspanne von 50 000 bis 68 000 Jahren vor heute datiert, die ältesten Neandertaler-Knochen könnten laut Kulturministerium vielleicht sogar 100 000 Jahre alt sein.

Die Höhle liegt nur einen Steinwurf vom Tyrrhenischen Meer entfernt auf dem Gelände eines in die Jahre gekommenen Strandhotels, rund hundert Kilometer südöstlich von Rom. Schon im Februar 1939 hatte ein Bauarbeiter zufällig den Jahrtausende lang verschütteten Eingang zur Höhle entdeckt, als er für Herrn Guattari - daher der Name der Höhle - Baumaterial für dessen Haus holte. Die Archäologen sicherten damals Knochen von zwei Neandertalern. Einer, ein Schädeldach mit Loch, sorgte seit dieser Zeit immer wieder für Schlagzeilen, war er doch inmitten eines Steinkreises gefunden worden: Kannibalismus und rituelle Opferung lautete der Verdacht. Erst vor wenigen Jahren ergaben genauere Analysen Hinweise auf Bissspuren: Eine Hyäne hatte den Schädel des Neandertalers in die Höhle gezogen und dort mit ihren scharfen Zähnen ein Loch ins Schädeldach gebissen, um an das Hirn zu kommen.

Bei neueren Grabungen fanden die Forscher in einem bisher unerforschten, "Laghetto" genannten Teil der Höhle die menschlichen Knochen der neun Neandertaler, dort dringt in den Wintermonaten regelmäßig Wasser ein. Schädelfragmente, Teile der Kiefer und Oberschenkelknochen und Zähne lagen hier geschützt im Sediment, darüber hinaus auch pflanzliche Überreste, Knochen von Nashörnern, Elefanten, Riesenhirschen, Wildpferden, Auerochsen und eben wilden Hyänen.

Bis zu hundert Kilogramm konnten die urzeitlichen Hyänen wiegen

Viele der menschlichen Knochen weisen Nagespuren auf. Die Forscher gehen daher davon aus, dass Hyänen alle Neandertaler einst in die Höhle schleppten und dort ihre Beute in Ruhe verzehrten - die Höhle war eine Art Speisekammer der Hyänen. "Neandertaler waren Beute für diese Tiere", sagt Rolfo. "Hyänen jagten sie, vor allem die Schwächsten, wie kranke oder alte Menschen." Bis zu hundert Kilogramm schwer konnten die urzeitlichen Hyänen werden, deutlich größer als heute lebende Exemplare.

Blick in die Guattari-Höhle am Circeo-Berg (Foto: -/dpa)

Doch offenbar waren die Neandertaler nicht nur Opfer. Sie besiedelten selbst immer wieder die Höhle, so die Forscher. Dies belegen Spuren von Holzkohle und verbrannten Tierknochen im Eingangsbereich, er liegt deutlich entfernt von den Knochen aus dem "Laghetto". Dort könnte es eine Feuerstelle gegeben haben, ein Beleg für eine menschliche Besiedlung. "Es gab einen Wettbewerb um solche Höhlen", sagt der Leipziger Paläoanthropologe Jean-Jacques Hublin. Raubtiere wie Höhlenbären, Höhlenlöwen oder eben Hyänen lebten meist tiefer in den Höhlen, Menschen nutzten eher den Eingangsbereich. Aber nie zur selben Zeit.

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Rolfo will nun mit seinem Team versuchen, die DNA der Neandertaler zu analysieren, um ihre Lebensweise und Siedlungsgeschichte besser zu verstehen. Neandertaler lebten in Europa etwa 260 000 Jahre lang, in manchen Regionen einige Jahrtausende parallel zum modernen Menschen.

Der Inhalt der Höhle wurde wie in einer Zeitkapsel bewahrt

Wichtig für den Erfolg solcher Analysen sind die Erhaltungsbedingungen der Knochen. Da der Eingang durch einen prähistorischen Erdrutsch vor mehr als 50 000 Jahren verschlossen wurde, ist der Inhalt wie in einer Zeitkapsel bewahrt worden - ungestört durch Einflüsse von außen. So besteht die Hoffnung, dass noch Erbgutreste in Knochen oder Zähnen vorhanden sind. Dann ließe sich etwa prüfen, wie groß die genetische Variabilität der Neandertaler-Population in Italien vor rund 60 000 Jahren war und ob sogar Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den elf Individuen bestehen. "Es ist ein extrem wichtiger Fund, mit dem sich möglicherweise das Leben der Neandertaler und eventuell auch die soziale Organisation einer Gruppe besser verstehen lässt", sagt der Archäogenetiker Johannes Krause, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. "Bisher haben wir noch keine Kern-DNA von Neandertalern aus Italien."

Generell haben sich die Untersuchungsmöglichkeiten in den vergangenen Jahren durch Verfahren wie die sogenannte Paläoproteomik extrem verbessert. So können Forschende etwa aus dem Kollagen der Knochen wertvolle Informationen über die jeweilige Spezies und ihre Lebensumstände gewinnen. Von einer Analyse der Sedimente erhoffen sich die Experten zudem genauere Aufschlüsse über die klimatischen Lebensbedingungen in Südeuropa, zu einer Zeit, als Mitteleuropa und der Norden noch weitestgehend unter einer Eisdecke lagen. Immerhin war Italien während der Eiszeit ein Refugium für die Neandertaler.

Noch sind die wissenschaftlichen Arbeiten am Anfang, die Analysen der Funde noch in keiner Fachzeitschrift publiziert. Teilresultate aber gibt es schon: Proben vom Zahnstein haben ergeben, dass die Neandertaler erstaunlich viel Getreide aßen. Damit ist zumindest klar, dass sich die Neandertaler vor den Hyänen fürchten mussten, umgekehrt aber wohl eher nicht.

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