Tarifkonflikte:Die Streiks im öffentlichen Dienst sind unsolidarisch

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Ein Verdi-Streik in Reutlingen, Baden-Württemberg: Vergangene Woche haben Verdi-Mitglieder unter der Parole: "Wir halten den Laden am Laufen. Jetzt seid ihr dran!" demonstriert. (Foto: imago images/Eibner)

Deutschland hat momentan Wichtigeres zu tun als zu streiken: Die Corona-Zahlen steigen immer bedrohlicher. Doch Verdi hat nach der ersten Welle schon maßlose Forderungen gestellt.

Kommentar von Nikolaus Piper, München

Vielleicht hat es mit den Warnstreiks in Kitas, Krankenhäusern, Bussen und Stadtwerken jetzt erst einmal ein Ende, vielleicht auch nicht. Sollten Arbeitgeber und Gewerkschaft Verdi das Gemeinwohl im Blick haben, dann werden sie bei den Tarifverhandlungen an diesem Donnerstag zu einem schnellen Abschluss kommen. In einer Zeit, in der die Zahl der Corona-Infizierten immer bedrohlicher steigt, hat das Land wahrlich Wichtigeres zu tun, als die alten Rituale der Tarifpolitik zu zelebrieren. Schon jetzt allerdings geht dieser Arbeitskampf unter Schutzmasken, den Verdi vom Zaun gebrochen hat, als einer der unnötigsten und unsolidarischsten in die bundesdeutsche Geschichte ein.

Anfangs konnte die Gewerkschaft noch auf eine Art von Verständnis für ihre Forderungen bauen. Es ging darum, die Heldinnen und Helden aus der ersten Welle der Corona-Pandemie besserzustellen. Pflegekräfte und Mitarbeiter in den Gesundheitsämtern, die teilweise bis zum Umfallen arbeiteten, sollten nicht nur Applaus, sondern auch mehr Geld bekommen. Das wäre nicht nur gerecht, sondern auch vernünftig. Wie sollen Krankenhäuser mehr Fachkräfte finden, wenn sie ihnen nicht bessere Arbeitsbedingungen bieten können? Tatsächlich haben die Arbeitgeber bereits vorige Woche ein Angebot vorgelegt, das Arbeitskräften im Gesundheitssektor besondere Verbesserungen bietet. Diese umzusetzen wird schwer genug sein, schließlich drohen vielen Krankenhäusern wegen der Krise Milliardendefizite.

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Den eigentlichen Sündenfall beging Verdi, als sie dieses Anfangsverständnis nutzte, um für alle Beschäftigten der Kommunen maßlose Forderungen zu stellen, für Busfahrer, Müllwerker und Sparkassenangestellte. Insgesamt 4,8 Prozent mehr Lohn für ein Jahr zu fordern, während die deutsche Wirtschaft um 5,4 Prozent schrumpft, darauf muss man erst einmal kommen. Die kommunalen Arbeitgeber haben zuletzt ein Plus von 3,5 Prozent in drei Jahresstufen angeboten, was aus Sicht der Beschäftigten ziemlich gut ist in einer Zeit, in der die Inflation praktisch bei null liegt und in der den Kommunen die Steuereinnahmen wegbrechen. Verdi bezeichnete das Angebot dagegen als "dreist, respektlos, provokant". Das ist einerseits die übliche Rhetorik in deutschen Arbeitskämpfen, die Formulierung legt andererseits nahe, dass die Leute bei Verdi trotz Maskenpflicht und Sperrstunden den Ernst der Lage nicht begriffen haben.

Dazu passt die Parole, unter der Verdi-Mitglieder während der vergangenen Wochen gestreikt und demonstriert haben: "Wir halten den Laden am Laufen. Jetzt seid ihr dran!" Die Frage ist: Wen meint Verdi mit "ihr"? Man sollte sich an dieser Stelle daran erinnern, wer die Arbeitgeber im öffentlichen Dienst sind - nicht irgendwelche Verbände, sondern die Einwohner und Steuerzahlerinnen von Städten und Gemeinden. Darunter sind sehr viele, die den Laden ebenfalls am Laufen halten, aber nicht streiken, weil sie nicht wollen oder weil sie nicht dürfen: Verkäufer und Verkäuferinnen, Polizisten, Lehrerinnen, Bauarbeiter und Unternehmer. Andere hätten gerne den Laden am Laufen gehalten, konnten es aber nicht, weil ihr Job, etwa in einem Hotel, der Krise zum Opfer gefallen ist, oder weil sie auf Kurzarbeit sind. Schließlich müssen gerade jetzt viele um ihren Arbeitsplatz bangen, etwa in der Autoindustrie.

Es konnte in den vergangenen Wochen durchaus vorkommen, dass ein Vater oder eine Mutter, die gerade um ihre berufliche Zukunft nach Corona ringen, ihr Kind nicht in die Kita bringen können, weil dort die Mitarbeiterinnen mit ihren sicheren Arbeitsplätzen gerade streiken. Die Eltern sind Arbeitgeber der Streikenden.

Viel Vertrauenskapital ist in den vergangenen Wochen verloren gegangen

Vielleicht ist es der Fluch der guten Tat. Mit den Milliardenschulden, die er jetzt aufnimmt, sorgt Olaf Scholz dafür, dass der Wirtschaft das Schlimmste erspart bleibt. Das könnte einen falschen Schein von Normalität erzeugen. So, als könne man sich alles leisten, so wie vor der Pandemie. In Wirklichkeit würden die Bürger besonders in finanzschwachen Kommunen einen hohen Preis zahlen, käme Verdi mit ihren Forderungen durch. Viele müssten noch mehr sparen als ohnehin. Und das ginge höchstwahrscheinlich zulasten der Investitionen, also der Zukunft.

Das System der Tarifautonomie gilt in der Regel bis heute als Stärke der deutschen Wirtschaft, weil sie destruktive und maßlose Streiks verhindert und für eine Beteiligung der Arbeitnehmer am steigenden Volkseinkommen sorgt. Auf Großkrisen, die von außen über Deutschland hereinbrechen, ist das System aber offenbar nicht vorbereitet. Viel Vertrauenskapital ist in den vergangenen Wochen verloren gegangen.

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