Start-ups:Warum in den USA so viele Firmen gegründet werden

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Verlassener Parkplatz einer Mall in Richmond, Kalifornien, im März 2020: Die Pandemie hat den schon bestehenden Trend weg vom stationären und hin zum Onlinehandel weiter beschleunigt. (Foto: Justin Sullivan/AFP)

Ausgerechnet während der Corona-Rezession erreicht in den USA die Zahl der neuen Start-ups Rekordstände - ganz anders als in der letzten großen Krise. Das hat vor allem zwei Gründe.

Von Claus Hulverscheidt, Berlin

Wann kommt das große Firmensterben? Das ist im Jahr zwei einer Pandemie, die der Welt die tiefste Wirtschaftskrise seit Kriegsende beschert hat, eine naheliegende Frage. Und doch registrieren amerikanische Ökonomen derzeit ein ganz anderes, ja gegenteiliges Phänomen: Noch nie seit Einführung der Statistik nämlich haben in den USA so viele Menschen eine Firma gegründet oder sich selbständig gemacht wie ausgerechnet zwischen Juli 2020 und Juni 2021. Vor Ausbruch der Corona-Krise wurden monatlich im Schnitt etwa 300 000 junge Unternehmen bei den Behörden angemeldet. Seit Mitte vergangenen Jahres waren es in einzelnen Monaten bis zu 550 000.

Wie kann das sein - schließlich war die Entwicklung während der letzten großen Krise 2008 und 2009 genau umgekehrt: Die Zahl der Unternehmensanmeldungen rauschte in den Keller, und es dauerte Jahre, bis sie wieder jenes Niveau erreichte, das zuvor einmal üblich gewesen war. Dass der Trend diesmal - nach einem kurzen Einbruch zu Beginn der Pandemie - in die entgegengesetzte Richtung geht, mag unter anderem dem Umstand geschuldet sein, dass mancher Amerikaner nach dem Verlust des Jobs schlicht gezwungen war, sich als Selbständiger zu versuchen.

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Darüber hinaus gibt es aber zwei Faktoren, die tatsächlich grundlegend anders sind als 2008. Das zeigen Untersuchungen, wie sie jetzt unter anderem John Haltiwanger, Professor für Volkswirtschaftslehre an der University of Maryland, College Park, vorgelegt hat.

Faktor eins: das zur Verfügung stehende Geld. Als vor gut einem Jahrzehnt in den großen Industrieländern die Finanzkrise ausbrach, machte sie Firmengründern das Leben gleich doppelt schwer: Die Immobilienpreise und die Aktienkurse brachen ein, viele Bürger wurden zumindest auf dem Papier ärmer. Zudem gingen reihenweise Banken pleite, und die, die überlebten, vergaben kaum noch Kredite. Damit fehlte vielen potenziellen Gründern eine Ressource, die für die allermeisten jungen Unternehmen unabdingbar ist: Kapital.

Zwischen Idee und Geschäftsbeginn liegen manchmal nur wenige Wochen

Genau das ist heute nicht so, im Gegenteil. Dank großzügiger staatlicher Hilfspakete und Konjunkturprogramme, ständig steigender Aktienkurse und deutlich niedrigerer Ausgaben etwa für Reisen, Restaurants und Theaterbesuche haben Millionen Amerikaner derzeit mehr Geld zur Verfügung als in vielen normalen Jahren. Zugleich geben die Banken großzügig Kredite, viele Kapitalanlagegesellschaften suchen sogar händeringend nach Start-ups, in die sie investieren können.

In New York hat die Pandemie ein geradezu neues Genre geschaffen: die Außengastronomie. (Foto: Richard B. Levine/imago images)

Faktor zwei: Zumindest in einigen Branchen ist es heute viel leichter, ein Unternehmen zu gründen, als noch vor zehn Jahren. Das offensichtlichste Beispiel ist der Onlinehandel, wo dank der Hilfe von Plattformen wie Amazon, Computerprogrammen wie Shopify und Bezahldiensten wie Paypal oder Stripe manchmal nur wenige Wochen zwischen Geschäftsidee und Geschäftsbeginn liegen. Nicht von ungefähr kam jedes dritte Unternehmen, das in den letzten zwölf Monaten in den USA gegründet wurde, aus diesem Bereich. Wahrscheinlich, so Haltiwanger in seiner Analyse, habe die Pandemie den schon bestehenden Trend weg vom stationären und hin zum Onlinehandel weiter beschleunigt.

Allerdings machten Neuunternehmer auch viele echte Läden auf, wenn auch vorwiegend in Gegenden, in denen die Mieten niedriger sind als in Metropolregionen wie New York oder San Francisco. Zu den Branchen und Unterbereichen, die derzeit ebenfalls besonders viele Gründungen verbuchen, gehören darüber hinaus das Speditionsgewerbe, Beratungsdienste, Waschsalons und - vielleicht überraschend - das Gastgewerbe. In New York etwa schlossen zwar seit Beginn der Corona-Krise Hunderte Restaurants ihre Pforten, zugleich gab es aber viele Neueröffnungen. Mehr noch, die Pandemie schuf geradezu ein ganz neues Genre, das es in der Stadt so zuvor nicht gegeben hatte: die Außengastronomie. Waren es zu Beginn der Krise noch rasch zusammengenagelte Verschläge, in denen die von Umsatzausfällen geplagten Besitzer Gäste empfingen, sind es mittlerweile oft fest eingefasste, hübsch anzusehende Decks und Schankflächen, die nach Auskunft des scheidenden Bürgermeisters Bill de Blasio auch nach dem Ende der Pandemie werden bleiben dürfen.

Unter dem Strich meldeten seit Beginn der Pandemie mehr als sechs Millionen Menschen ein Unternehmen oder ein selbständiges Gewerbe bei den US-Behörden an. Die gut 550 000 Anmeldungen im Juli 2020 waren sogar der mit Abstand höchste Wert, der je in einem Monat gemessen wurde. Nachdem sich die Kurve zwischenzeitlich - auf hohem Niveau - abgeflacht hatte, liegen die Werte derzeit wieder in der Nähe des Rekordstands. Nur, wie viele der neuen Unternehmen mittel- und langfristig überleben werden, das kann man noch nicht sagen. Die Erfahrung lehrt: vermutlich nicht einmal eins von zehn.

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