Für die EU-Klimapolitik war es bislang kein guter Herbst. Eigentlich, ja eigentlich hatten sich die Mitgliedstaaten längst auf ein neues Klimaziel für das Jahr 2030 einigen wollen. Nun soll diese wichtige Angelegenheit erst im Dezember auf einem Gipfel der Staats- und Regierungschefs geklärt werden. Und bei einem anderen großen Thema dieses Herbstes, der Agrarpolitik, die ebenfalls bedeutsam ist fürs Klima, haben sich die Mitgliedstaaten zwar schon auf eine Reform geeinigt; allerdings auf eine, die von Umwelt- und Klimaschützern als rückständig bezeichnet wird, weil sich mit ihr die Ziele des "Grünen Deals" der EU-Kommission nicht erreichen ließen. Viele von ihnen hoffen nun, dass die Brüsseler Behörde ihren ursprünglichen Reformvorschlag doch noch zurückziehen und das Vorhaben damit stoppen könnte.
Der Bewahrer und Verteidiger dieses Grünen Deals heißt Frans Timmermans, er ist Vizepräsident der EU-Kommission und zuständig für den Klimaschutz. Seit mehr als 30 Jahren kennt er die Europapolitik, er gilt als geschickter Verhandler und spricht sieben Sprachen. Beim Auftakt des SZ-Wirtschaftsgipfels in Berlin machte Timmermans den Kritikern des Grünen Deals wenig Hoffnung. Die Kommission habe "immer das Recht, einen Vorschlag einzuziehen, wenn wir der Meinung sind, dass das, was Parlament und Rat machen, zu weit entfernt ist von der Natur des Vorschlags", sagte er. "Aber diese Position haben wir absolut nicht erreicht." Auch müsse man sich stets fragen, wie realistisch es sei, dass sich Parlament und Rat tatsächlich auf etwas Besseres einigen würden.
"80 Prozent der Gelder gehen an 20 Prozent der Landwirte."
In der Sache aber kritisierte auch Timmermans die Reform, auf deren Eckpunkte sich die Agrarminister der EU im Oktober geeinigt hatten. In der vergangenen Woche haben die Verhandlungen mit dem EU-Parlament begonnen. "80 Prozent der Gelder gehen an 20 Prozent der Landwirte. Da gibt es einen Mangel an Gleichgewicht", sagte Timmermans mit Blick auf die Tatsache, dass ein Großteil der milliardenschweren Agrarsubventionen weiterhin vor allem von der Größe der bewirtschafteten Fläche abhängen. Außerdem stört ihn, dass die Minister sich darauf geeinigt haben, Kernpunkte der Reform erst nach einer zweijährigen Lernphase für die Bauern umzusetzen. "Die nehmen sich zu viel Zeit mit dieser Reform. Als Kommission bestehen wir auf eine Beschleunigung."
Gleichzeitig mit dem Auftritt des Kommissars in Berlin tagten am Montag die EU-Agrarminister. Dort nahm man diese und ähnliche Äußerungen von Timmermans aus den vergangenen Tagen aufmerksam zur Kenntnis. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), die als Vertreterin der deutschen Ratspräsidentschaft dort derzeit die Verhandlungen leitet, teilte nachmittags mit, es sei "dringend geboten, demokratische Kompromisse, die mit guten Gründen so gefunden wurden, ernst zu nehmen". Die Delegationen hätten sich "zutiefst irritiert" darüber gezeigt, dass die Beschlüsse der Mitgliedstaaten und der Parlamentsmehrheit infrage gestellt würden.
Timmermans war für den SZ-Wirtschaftsgipfel per Video zugeschaltet - Belgien ist Corona-Risikogebiet, und so war der Kommissions-Vize pandemieverträglich in Brüssel geblieben. Im Auftaktgespräch des Gipfels erklärte er, warum die Politik insgesamt mehr Anstrengungen für den Klimaschutz unternehmen müsse: Die Regierungschefs hätten sich darauf festgelegt, dass die EU bis 2050 klimaneutral sein solle. Das bedeutet, dass nicht mehr Emissionen ausgestoßen werden sollen, als an anderer Stelle gleichzeitig wieder eingespart werden. Wenn das also das Ziel sei, müssten die Regierungschefs ihre Politik auch danach ausrichten, so Timmermans. "Jede Bürgerin und jeder Bürger hat das Recht, nicht konsequent zu sein. Aber wir als Politiker haben die Pflicht, konsequent zu sein."
Die Bundesrepublik, die derzeit die alle sechs Monate wechselnde EU-Ratspräsidentschaft innehat, habe die Aufgabe, bis Ende des Jahres die Verhandlungen für ein neues Klimaziel für 2030 abzuschließen, "damit wir diese Klimaneutralität bis 2050 auch hinbekommen", sagte Timmermans. Die EU-Kommission hatte im September vorgeschlagen, die Emissionen bis 2030 im Vergleich zu 1990 um "mindestens 55 Prozent" zu senken; das EU-Parlament fordert sogar eine Reduktion von 60 Prozent. Die Mitgliedstaaten jedoch haben sich bis jetzt noch nicht auf eine Verhandlungsposition geeinigt - ein Gipfel der Staats- und Regierungschefs im Dezember soll diese Frage klären. "Das könnte die deutsche Ratspräsidentschaft noch hinbekommen", glaubt Timmermans. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), die am Dienstag beim Wirtschaftsgipfel erwartet wird, mache ihre Arbeit sehr gut, es gebe aber auch noch einiges zu tun.
Der Einsatz für mehr Klimaschutz sei nicht nur ein Thema für gute Tage - schließlich stecke die EU nicht nur in einer Pandemie, einer Biodiversitäts- und einer Klimakrise, sondern auch in einer "industriellen Revolution", wie es Timmermans formuliert: "Wenn wir jetzt unsere Wirtschaft wiederaufbauen, müssen wir die nachhaltig aufbauen. Aber wenn wir jetzt noch in Bereiche investieren, die reformbedürftig sind, werden wir das Geld verlieren."
"Gewisse Zeit in der Automobilindustrie verschlafen"
Die Grundsatzentscheidung für Klimaneutralität werde nicht nur für die Landwirtschaft, sondern auch für die Automobilindustrie Folgen haben. Europa habe das Problem, dass "wir eine gewisse Zeit in der Automobilindustrie verschlafen haben", sagte Timmermans. In Europa habe man sich lange darauf konzentriert, den Ausstoß von Verbrennungsmotoren immer weiter zu reduzieren - während man in den USA, in Japan und in China früher damit begonnen habe, in Elektromobilität zu investieren. Darum habe man in Europa "einen unheimlichen Nachholbedarf". Die Politik müsse helfen, die Infrastruktur für Elektromobilität auszubauen, etwa, indem sie "viel, viel mehr" Ladestellen auf die Straßen bringe.
Ob auch 2030 noch Verbrennungsmotoren in Europa gebaut werden? Timmermans glaubt, ja. "Aber wahrscheinlich insbesondere für Lkw, nicht für Pkw." Die Branche habe es selbst in der Hand, ob und wie schnell sie umschwenken wolle, die Kommission sei "technologieneutral", schreibe also keine bestimmte Antriebsform für Motoren vor. Wenn es der Automobilindustrie gelänge, Verbrennungsmotoren so zu verändern, dass sie strengeren Emissionsnormen genügten, dann habe sie dazu die Freiheit. "Ich frage mich aber, ob das realistisch ist", sagte Timmermans. "Das muss die Automobilindustrie selbst entscheiden."