John Maynard Keynes war nicht nur ein großer Ökonom, sondern auch ein versierter Kenner der Finanzmärkte, an denen er viel Geld verdient hat. Für den britischen Baron war der Erfolg an den Börsen allerdings "immer nur einer Minorität vorbehalten". Und denen, die sich dazu berufen fühlten, dem elitären Klub der Börsen-Sieger beizutreten, gab er 1937 folgenden Tipp: "Wenn du jemanden findest, der mit dir übereinstimmt, dann ändere deine Meinung." Erfolgreiche Anleger, so Keynes' Mantra, stellen sich gegen die Mehrheit an der Börse.
Man darf sich in diesen Tagen an Keynes berühmte Worte erinnern, denn wieder einmal erlebt die erstaunte Anlegerwelt, dass Börsenkurse selten so verlaufen, wie die Expertenzunft das erwartet. Das Votum für den EU-Ausstieg Großbritanniens, der gescheiterte Militärputsch in der Türkei, die Ungewissheit darüber, wer der nächste US-Präsident wird. Die meisten Börsianer dachten, dass diese Umstände kein guter Nährboden für steigende Aktienkurse sein könnten.
Doch weit gefehlt.
Das billige Geld ist wichtiger als alles andere
Der Dax erreichte am Dienstag mit knapp 10 700 Punkten einen neuen Jahreshöchststand. Seit der Brexit-Entscheidung hat der deutsche Aktienindex um rund 14 Prozent zugelegt. In den USA notiert der Index S&P 500 auf Rekordniveau. Selbst an der Londoner Börse steigen die Kurse, obwohl die Gefahr besteht, Großbritannien könnte durch den Brexit in eine Rezession rutschen. Wer in diesem Frühsommer den alten Keynes bemüht hat, konnte kurzfristig ordentlich Geld verdienen.
Doch wie kann es sein, dass trotz der vielen politischen Risiken die Börsen boomen? Antwort: "Es gibt ein Thema an den Aktienmärkten, das alles andere überstrahlt", sagt Stefan Scheurer, Kapitalmarkt-Stratege bei Allianz Global Investors. "Dieses Thema ist das viele Geld, das die Notenbanken in die Märkte gepumpt haben, um die Finanzkrise zu bekämpfen."
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In den USA, in Japan, in der Euro-Zone liegen die Leitzinsen nahe null Prozent. Gleichzeitig kaufen die Europäische Zentralbank und die Bank of Japan auch noch Staatsanleihen und pumpen so Geld ins Finanzsystem, das irgendwo angelegt werden muss. In der vergangenen Woche hat auch die Bank of England ihre Geldpolitik deutlich gelockert. "Die Anleger versuchen, dieses Geld für sich arbeiten zu lassen, und das beste Mittel dafür ist der Aktienmarkt", sagt Scheurer.
Gerade langfristig denkende Anleger fragen sich, wie es jetzt an den Börsen weitergeht. Treiben Investoren mit dem billigen Geld der Notenbanken auch den Dax in den Bereich von 12 000 Punkten? Oder fallen demnächst die Kurse wieder?
Die Zentralbanken verzerren die Preise
"Die Märkte werden weltweit durch die Politik des billigen Geldes der Zentralbanken massiv manipuliert", sagt Folker Hellmeyer, Chefvolkswirt der Bremer Landesbank. Die niedrigen Zinsen seien der Schlüssel für die Entwicklung aller Anlageklassen - ob Aktien, Anleihen oder Rohstoffe. Die Intervention der Zentralbanken, die bereits seit acht Jahren anhält, ist auch eine Art politischer Börse. "Insofern kann man nicht mehr behaupten, dass politische Börsen kurze Beine haben", sagt Hellmeyer.
Früher hieß es an den Finanzmärkten nämlich: Politische Börsen haben kurze Beine. Gemeint ist damit, dass auf Ereignisse wie Wahlen oder regionale Konflikte kurzfristig große Nervosität folgt und die Aktienkurse einbrechen. Der Effekt hält aber nicht lange an, nach einiger Zeit beruhigt sich die Lage wieder, und die Kurse kehren dorthin zurück, wo sie vorher waren. Am Ende, so die These, komme es an der Börse nicht auf die Politik an, sondern auf die Wirtschaft: auf das Wachstum in einzelnen Volkswirtschaften und die Aussichten für die Unternehmen.
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Doch das gilt nun nicht mehr. Die Geldpolitik der Zentralbanken verzerrt die Preise an den Börsen und den Immobilienmärkten. Anleihen werfen kaum mehr etwas ab - Aktien werden gekauft, weil es nichts Besseres gibt, und nicht etwa, weil die Unternehmen sehr hohe Gewinne machen. Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der DZ Bank, ist besorgt. "Anhaltende Unruhen weltweit, Terroranschläge in Europa und die unklaren Folgen des Brexit wirken bereits heute belastend sowohl auf die Konsumnachfrage als auch auf Neuinvestitionen. Dies wird sich auch in einigen Monaten in den Gewinnschätzungen der Unternehmen niederschlagen."
Deutsche Firmen haben im ersten Halbjahr bereits weniger exportiert, wie das Statistische Bundesamt am Dienstag mitteilte.
Die US-Wirtschaft treibt das weltweite Wachstum
Allerdings ist die Welt nicht aus den Fugen geraten. "Die globale Wirtschaft wächst in diesem Jahr voraussichtlich um mehr als drei Prozent", sagt Allianz-Mann Scheurer. Das sei ein sehr guter Wert. Getragen werde der Aufschwung von der US-Wirtschaft, von der kürzlich auch gute Zahlen vom Arbeitsmarkt kamen. Dazu gebe es positive Signale von Schwellenländern wie Indien, Indonesien und Thailand. Auch Chinas Wirtschaft wird wohl keine harte Landung hinlegen, wie viele vor einem halben Jahr noch befürchteten. Und die europäische Wirtschaft wachse 2016 um 1,5 Prozent.
Chefvolkswirt Hellmeyer ist auch deshalb optimistisch. Er erwartet, dass der Dax bis zum Jahresende auf 11 000 Punkte steigen kann. "Aktien sind nicht zu teuer", sagt er und verweist auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis, ein wichtiger Indikator, der das Verhältnis zwischen dem Kurs der Unternehmen und ihrem erwarteten Gewinn für das nächste Jahr beschreibt. Der Wert liege im Dax bei 12,5 und damit unter dem langfristigen Durchschnitt. Ökonom Bielmeier dagegen warnt vor einem Preiseinbruch an den Börsen: Die Kurse an den Aktienmärkten, vor allem in den USA, seien "heiß gelaufen". Wem würde Keynes glauben?