Schrauben "Preisinger":Herr über 22 Millionen Schrauben

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Schrauben Preisinger am Viktualienmarkt -Geschäftsführer und Inhaber in der fünften Generation Patrik Lange-Mittwochsinterview für die SZ Wirtschaft, 20.Januar 2020 , Copyright : Foto : Stephan Rumpf (Foto: Stephan Rumpf)

Patrik Lange ist Chef des Münchner Traditionsgeschäfts "Schrauben Preisinger". Eigentlich wollte er als Anwalt arbeiten. Heute liebt er seinen Job. Auch, weil er darin täglich Neues lernt - über Schrauben, aber auch darüber, was die Welt bewegt.

Von Lea Hampel, München

In einer Ecke des Büros steht noch das Foto vom Tag seines Abschlusses. Das Orange der Krawatte und die Schulterpolster im Sakko verraten, dass der schon ein paar Jahre her ist. Das zurückhaltende Lächeln aber, mit dem Patrik Lange in die Kamera schaut, ist noch dasselbe. So lächelt er auch, als man ihn auf das Bild anspricht. Ja, schön sei das gewesen. Damals.

Der schmale Mann sitzt hinterm Schreibtisch vor einer mit Kiefernholz verkleideten Wand mit Schwarz-Weiß-Bildern. Dass Lange trotz des Staatsexamens in Jura hier in einem Hinterhofbüro sitzt, dass im Regal nicht Gesetzbücher, sondern jahrzehntealte Schächtelchen stehen, könnte man sonderbar finden. Preisinger, das ist ein Traditionsgeschäft mit Schrauben im Schaufenster und Kunden im Blaumann, das zu München gehört wie Kustermann und Frauenkirche. Was soll da ein Jurist? Man könnte aber auch sagen: Es ist logisch, dass er hier sitzt. Nicht nur, weil das Geschäft 1921 von seiner Familie gegründet wurde. Sondern weil Lange sich neben dem Lächeln aus seiner Zeit als Jurist die Akkuratesse bewahrt hat. Und die ist als Anwalt sinnvoll, in Langes zweitem Beruf aber unumgänglich: Er ist Herr über 22 Millionen Schrauben, einige davon nur Millimeter groß. "Ich kann wirklich sagen: Ich lerne hier jeden Tag was Neues", sagt er.

Dabei konnte er sich genau das lange nicht vorstellen. Morgen für Morgen ins Geschäft, wie er es bei seinem Vater gesehen hat, das schien ihm als junger Mann zu langweilig. "Ich fand das einfach nicht spektakulär genug. Wenn man jung ist, möchte man eben etwas Aufregendes machen." Lange studierte Jura. Das war schon deshalb ein Abenteuer, weil er der Erste in seiner Familie war, der eine Universität besuchte. Nach dem Studium eröffnete er eine Kanzlei, "Feld-, Wald- und Wiesen-Anwalt" sei er gewesen. Was ihm daran Spaß gemacht hat? Die Kleidung, sagt er und schmunzelt. Heute trägt der 50-Jährige oft Hemden, aber auch mal Fleecepullis mit Firmenlogo. Frustriert dagegen hat ihn vieles: Um als Einzelanwalt über die Runden zu kommen, braucht es eine große Bandbreite, ihm fehlte die Tiefe. Am schlimmsten fand er, dass seine Ware immateriell war: Klienten sahen nicht immer ein, warum sie eine Rechnung für einen verlorenen Fall zahlen sollten.

Vor rund zwölf Jahren war es so weit: Lange war gestresst. Oft begleiteten ihn seine Fälle bis ins Privatleben, er schlief schlecht. Zur gleichen Zeit überlegten die Eltern, wie es mit dem Geschäft weitergehen sollte. Langes Vater ging davon aus, dass der Sohn als Jurist den Laden ohnehin nicht übernehmen wolle. Da sagte Lange aus einer Laune heraus: "Du hast mich ja nie gefragt." Und beschloss, von einem Geschäft, das die Welt zusammenhält, in ein anderes zu wechseln, das auf seine Weise das Gleiche tut.

Der Umgang mit den Schrauben war für Lange nicht neu: Die Familie, die früher Preisinger hieß, betrieb den Laden stets in Eigenregie. Langes Vater hat das Geschäft 1979 übernommen und arbeitet bis heute, auch mit 76 Jahren, noch jeden Morgen mit. Als Junge hat Lange sein Taschengeld hier aufgebessert, Mischware zusammengestellt. Während andere Kinder mit Sand oder Steinen spielten, hantierte er mit Schrauben. "Eine Schippe davon, eine davon, das hat Spaß gemacht", erinnert er sich. Später hat er Schrauben ausgefahren.

2008 schließlich stieg er voll ein, übernahm 2015 die Leitung. Ein Dreivierteljahr habe er gebraucht, um sich wirklich auszukennen. Und noch mal so lang, um in sich eine Begeisterung zu entdecken, die ihn heute Sätze sagen lässt wie: "Wenn ich den Platz hätte, hätte ich 200 000 Schraubenarten auf Lager."

Wenn Lange erzählt, versteht man, wie so eine große Begeisterung für einen kleinen Massenartikel entstehen kann. Eine Schraube sei zwar auf den ersten Blick kein besonderes Produkt. Je weniger sie auffällt, desto besser. Aber sie ist oft das Detail, auf das es ankommt. Lange erinnert sich bis heute an einen Besuch auf dem Genfer Autosalon. Ein toller Ferrarimotor war ausgestellt, rot lackierter Deckel, alles glänzte. Nur die Schrauben waren gräulich - und zerstörten den Gesamteindruck. "Da hätte man auch nicht sparen müssen", findet Lange bis heute.

Vor allem aber lässt sich an den scheinbar unscheinbaren Teilchen das große Ganze ablesen: Weltwirtschaftsentwicklungen wie die Globalisierung, Massenkonsum, eine Sehnsucht nach Qualität - und auch mal lokale Trends. So wissen Langes Mitarbeiter beispielsweise, welche Handtaschen in München gerade begehrt sind. Nämlich MCM, eine Münchner Marke der späten 1970er-Jahre. Weil oft die Schrauben für die Plakette auf den Taschen abfallen, stehen regelmäßig Damen vor Langes Theke und hoffen auf Hilfe. Die Firma Preisinger hat einst die Schrauben geliefert - und kann mit goldfarbenen Messingschrauben, die man in der Größe nicht mehr überall bekommt, den Kundinnen helfen.

Aber auch die großen Entwicklungen zeigen sich in dem Laden: Früher kamen viele Privatkunden, jetzt gehen sie in die Baumärkte. Früher waren viele Kunden Handwerker, heute können die sich die Miete in der Innenstadt nicht mehr leisten. Früher kamen viele Produkte aus Europa, heute stammen 90 Prozent der Schrauben aus Fernost. Früher gab es viele Standardschrauben, heute lassen Hersteller Sonderschrauben für viele Produkte anfertigen, weil es billig ist.

Oft werden Kunden direkt vom Baumarkt zu Preisinger geschickt

Langes Geschäft in der Utzschneiderstraße ist deshalb ein Ort, an dem Moderne und Vergangenheit permanent koexistieren: Unten liegt alter Linoleumboden, darauf Holzregale, die noch der Urgroßvater errichtet hat, hinter der Hochklapptheke beginnt ein Labyrinth aus Gängen. In den Regalen stehen Tausende Plastikschuber, Pappkisten mit Aufschriften wie "HN46 EA II M10", Schilder aus allen Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts ("Rauchen verboten"), darüber liegt der "Sozialraum", wie die Küche heißt, in dem eine Filterkaffeemaschine steht. "Das Unternehmen ist in vielen Dingen immer noch sehr ursprünglich, man könnte auch altmodisch sagen", meint Lange. Erst neulich ist ein Glas mit mehreren Tausend sehr kleinen Schrauben aufgetaucht, "DIN86 Halbrundkopfschrauben 1,7 in Messing" sagt Lange. Die dürfte der Urgroßvater gekauft haben. Lange hat sie erst jetzt entdeckt, aber diese Brillenschrauben kann er auch heute noch verkaufen.

Nur wenige Schritte von solch fast antiquarischen Schätzen entfaltet sich im ersten Stock in Langes Büro die Zukunft des Geschäfts. Gab es noch 2008 genau einen Computer im Büro, an dem einmal am Tag E-Mails abgefragt wurden, wird hier inzwischen ein immer größerer Teil der Arbeit erledigt: Geschäftskunden machen längst drei Viertel des Umsatzes aus, darunter Zwei-Mann-Spezialbetriebe, die intensive Beratung brauchen, aber auch Produktentwickler der großen Automobilhersteller. Einen Onlineshop hat Lange nicht - damit würde er sein Angebot zu sehr einschränken, mal abgesehen vom Aufwand. Stattdessen beraten er und seine Mitarbeiter persönlich bei allen Anfragen und lassen teilweise extra Schrauben herstellen.

Diese Tendenz ist auch der Grund, warum es die "Keimzelle", wie Lange das Ladengeschäft nennt, noch gibt: Zwar kommen nur rund 150 Kunden am Tag, halb so viele wie noch vor 30 Jahren. Aber sie kommen mit immer spezielleren Anliegen. Oft werden Kunden von den Baumarktmitarbeitern zum Preisinger geschickt, weil eine Sondergröße nicht vorrätig ist. Langes Kollegen verkaufen beispielsweise Modelle, die sie hausintern "Samsung-Schrauben" nennen, weil die Schrauben des Herstellers oft zu kurz sind. Was es hier an Modellvielfalt und Wissen gibt, da können vielleicht deutschlandweit fünf "Marktbegleiter" mithalten, wie Lange die Konkurrenz grinsend nennt. Mit genau diesem Zuschnitt gäbe es sogar niemand, sagt er.

Den Kunden zu helfen ist aber nicht immer einfach. "Wenn wir Glück haben, kommen die Leute mit der Schraube, wenn wir großes Glück haben mit dem Gegenstück, wenn wir weniger Glück haben, mit einem Foto auf dem Handy; manchmal immerhin mit Zollstock daneben." Aber genau das macht ihm Spaß.

30 000 Schraubenarten auf Lager und 60 000 im Gesamtangebot - das ist nicht weniger komplex als Hunderte Paragrafen. Und dieses Geschäft ist zumindest eindeutig. "Ich kann einfach sagen: Hier ist die Schraube, da ist das Geld, wunderbar."

© SZ vom 19.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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