Dieter Hildebrandt empfängt in seinem Haus im Münchner Stadtteil Waldperlach. Die Wohnzimmerwände sind mit Büchern von Brecht bis Tucholsky vollgestopft. Man nimmt ihm ab, alle gelesen zu haben. An der Wand hängen Karikaturen seines Freundes Dieter Hanitzsch, der ganz in der Nähe wohnt. Hildebrandt, 83 Jahre alt, ist braungebrannt und bester Laune. Hartz IV, Stuttgart 21 und dann ist da ja noch der Sarrazin - die Themen gehen dem Kabarettisten nicht aus. Kein Wunder also, dass Hildebrandt noch immer auf der Bühne steht. Zeit für ein Gespräch mit einem, der es einfach nicht lassen kann.
SZ: Herr Hildebrandt, reden wir über Geld. Sie sind 83 und mit Ihrem neuen Programm auf Tournee. Warum tun Sie sich das an, reicht die Rente nicht?
Dieter Hildebrandt: Für Essen, Trinken und Wohnen krieg ich genug. Nur eines bekomme ich nicht: die Freude daran, auf die Menschen einzureden und mir von ihnen sagen zu lassen, ob das nun Unsinn ist, was ich erzähle, oder nicht.
SZ: Das ist alles?
Hildebrandt: Ja. Mich regt ja sehr viel auf. Ich glaube, das kann ich mir gar nicht abgewöhnen.
SZ: Was regt Sie zurzeit auf?
Hildebrandt: Mich regt die Tatsache auf, dass sich niemand aufregt.
SZ: Und warum ist das so?
Hildebrandt: Ein Beispiel: Ich beobachte einen Menschen, der relativ ruhig darauf wartete, Bundeskanzler zu werden und plötzlich Bundespräsident wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt war er einer von denen, die man mit Sympathie betrachtet hat, weil er gelassen wirkte. In dem Moment, wo er das Amt des Bundespräsidenten bekleidete, wurde er dessen gewahr und kam in Verlegenheit, im Pluralis Majestatis zu reden. Das Gesicht des Herrn Christian Wulff veränderte sich zu einer wirklich neuen aufgepfropften Würde.
SZ: Wann haben Sie eigentlich bemerkt, dass Ihnen die Menschen gern zuhören?
Hildebrandt: Auf diese Frage habe ich immer anders geantwortet. Ihnen sage ich jetzt die Wahrheit. Ich bin mit elf Jahren in einem Zeltlager der Hitlerjugend gewesen, da gab es eines Abends einen Erzählwettbewerb am Lagerfeuer. Ich erzählte eine Geschichte, die ich frei erfunden hatte und behauptete, sie wäre tatsächlich passiert. Die Kinder haben dauernd gelacht. Und ich hatte das Gefühl, das gefällt mir. Das war der Beginn meiner vorlauten Phase, die bis heute anhält.
SZ: Von dieser Entdeckung in der Hitlerjugend reden Sie das erste Mal. Vor ein paar Jahren warf man Ihnen vor, Ihre Mitgliedschaft in der NSDAP verschwiegen zu haben.
Hildebrandt: Ich bin mir sicher, dass ich nie einen Antrag ausgefüllt habe, noch einen unterschrieben habe. Ich war damals im April 1944 als 16-jähriger Flakhelfer in Oberschlesien gewesen. Diesen angeblichen Parteieintritt kann ich mir nur durch ein Sammelverfahren erklären.
SZ: Wann kamen Sie erstmals mit dem Theater in Kontakt?
Hildebrandt: Ich studierte in München Theaterwissenschaft, ohne zu wissen, dass diese Wissenschaft am allerfernsten ist vom Theater selbst. Ein Kommilitone war Platzanweiser in dem von Erich Kästner mitgegründeten Kabarett "Die kleine Freiheit". Als er wegzog, übernahm ich. Ich stand jeden Abend hinterm Vorhang, spürte das Theater - und bekam dafür auch noch 4 Mark 50 am Abend.
SZ: Wie haben Sie Kästner erlebt?
Hildebrandt: Er kam eines Tages in das Programm und mit ihm ein dicker Mann, der mir unsympathisch war. Ich hatte einen geborgten Anzug an mit einem Fleck auf der Schulter, der mir sehr peinlich war. Der Mann tippte mit seinem dicken Finger auf meinen Fleck und scherzte: "Geiger, was?" Ich tippte auf seinen Bauch und sagte: "Schwanger, wie?" Der Kästner hat hellauf gelacht.
SZ: Konnten Sie von dem Verdienst als Platzanweiser leben?
Hildebrandt: Ach, ich hab noch andere Jobs gemacht. Ich war Nachtwächter in einem Jugendheim und durfte dort frei wohnen. Die längste Zeit fuhr ich Regenschirme mit dem Fahrrad aus. Und ein halbes Jahr war ich Aushilfskraft bei der Deutschen Bau- und Bodenbank.
SZ: Was gab es für einen Theaterwissenschaftler bei einer Bank zu tun?
Hildebrandt: Ich musste auf Rechenmaschinen den Lastenausgleich für Vertriebene ausrechnen. Meine Familie war ja selbst betroffen und hatte in Schlesien einen Bauernhof mit 100 Morgen verloren. Mein Vater bekam dafür ganze 5000 Mark. Wir Studenten hatten uns geeinigt, täglich höchstens 20 Formulare zu bearbeiten. Das war schnell gemacht. Und so habe ich dort angefangen, heimlich Texte zu schreiben.
SZ: Wann wurden Sie zum ersten Mal für Ihre Kunst bezahlt?
Hildebrandt: Als wir in Schwabing anfingen zu spielen, haben wir einen Hut aufgestellt. Da waren hin und wieder zehn Mark drin. Vier Wochen lang durfte unsere Truppe in einem kleinen Kabarett auftreten. Am ersten Abend habe ich meiner späteren Frau 60 Mark auf die Hand gelegt. Wir schauten uns dieses Geld wie ein Wunderwerk an.
SZ: 17 Jahre lang traten Sie in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft auf. Was brachte da ein Abend?
Hildebrandt: Der Eintritt betrug drei Mark. Es war zwar immer ausverkauft, aber es gingen nur 130 Personen rein. Das Geld haben wir geteilt: drei Mann Band, vier Mann auf der Bühne und der Regisseur. Da blieb nicht viel übrig.
SZ: Sind Sie deshalb zum Fernsehen?
Hildebrandt: Nein, das Fernsehen ist zu uns gekommen. Aber wenn wir die Gagen, die wir bekamen, heute nennen würden, würden wir uns blamieren. Ab 1962 sind wir jedes Jahr dreimal auf Tournee gegangen und verdienten gutes Geld.
SZ: Gab es damals Tabus für Kabarettisten?
Hildebrandt: Der Bundespräsident Lübke, der sich in aller Welt blamierte mit Redeanfängen wie "Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Neger". Der war ein absolutes Tabu, den sollte man als Staatsoberhaupt nicht kritisieren. Vor einem Auftritt 1964 erfuhr ich, dass die SPD mit Herbert Wehner an der Spitze beschlossen hatte, den CDU-Mann Lübke wieder zu wählen - und dass Wehner das Willy Brandt aufgedrückt hatte. Da habe ich gesagt, das muss doch wirklich nicht sein. An diesem Abend saß Brandt bei uns in der ersten Reihe. Ich habe alles gegen Lübke abgelassen, was mir einfiel. Ich sagte: Mir wird immer wieder gesagt, dass der Bundespräsident ein Tabu ist. Aber ich muss Ihnen sagen, auf Dauer ist mir ein Tabu als Bundespräsident zu wenig. Brandt hat sich die Schenkel gehauen und totgelacht. Das war im Fernsehen zu sehen. Hätte Brandt nicht tun sollen - meinte Wehner.
SZ: Welcher Politiker ist zurzeit der wertvollste für Kabarettisten?
Hildebrandt: Brüderle ist ein sehr begabter Komiker. Er ist ein Sprachrohr seiner eigenen Verwirrung.
SZ: Sie sagten einmal, Politik ist der kleine Spielraum, den die Wirtschaft ihr lässt.
Hildebrandt: Das habe ich vor 25 Jahren auf der Bühne gesagt. Die Reihenfolge der Mächtigen ist heute immer noch dieselbe: Ganz oben ist der Bundespräsident, später folgen Bundeskanzler und Verfassungsrichter und die Deutsche Bank. Das ist alles richtig - bis auf die Reihenfolge. In dem Moment, in dem der Chef der Deutschen Bank sich gütig zeigt und der Politik aus dem Loch hilft, muss man vorsichtig sein. Man darf sich nicht helfen lassen, denn er wird den Zinsfuß drin haben, in der Tür.
SZ: Zurzeit arbeiten Sie an der Fortsetzung der Kultserie "Kir Royal" in Berlin. Wie gut zahlt Regisseur Helmut Dietl?
Hildebrandt: Über die Gage haben wir überhaupt noch nicht geredet. Ich finde den Dietl sehr gut. Mir gefällt der Stoff.
SZ: Mit Fortsetzungen ist das so eine Sache, kann das überhaupt was werden?
Hildebrandt: Das Urteil könnte sein: Ans Original reicht es nicht heran. Aber der Film hat mit dem Münchner Flair von damals nichts zu tun. Berlin ist anders, auch der Hauptdarsteller hat ein höheres Tempo als der Franz-Xaver Kroetz, der den Reporter Baby Schimmerlos spielte.
SZ: Damals feierten Sie mit Dietl und Kroetz. Gehen Sie noch aus?
Hildebrandt: Nein, ich geh ned furt, wie der Münchner sagt. Ich habe viel und gerne gute Tropfen getrunken. Das habe ich abgestellt. Ich trete seit einem halben Jahr in meine nüchterne Altersphase ein.
SZ: Und wie ist das so?
Hildebrandt: Ist gut. Ich vermisse ein bisschen was. Es gibt Stunden, das sage ich: Jetzt wäre es schön, ein Glas Rotwein zu trinken. Aber ich bin froh, dass ich davon weggekommen bin.
SZ: Wenn Sie jetzt wieder in die Lach und Schieß nach Schwabing kommen, wie hat sich München verändert?
Hildebrandt: Mei, in Schwabing kann man jedes Jahr abhaken, was wieder verschwunden ist. Die Mieten dort sind derart unterhaltungsfeindlich geworden. Also Schlafing statt Schwabing.
SZ: Früher war also alles besser ...
Hildebrandt: ... jaja, aber im Ernst: Ich glaube, dass dahinter Erbengemeinschaften stecken. Die früheren Hausbesitzer sind alle gestorben, und die Kinder wollen daran verdienen. Sie machen also Wohnungen aus den nicht einträglichen Bierkneipen.
SZ: Auch aus der Lach und Schieß?
Hildebrandt: Das hängt von den Mietpreisen ab. Ich saß einem Rechtsanwalt gegenüber, der die Miete massiv erhöhen wollte. Und der konnte das Wort Geld sehr gut buchstabieren. Nur die Vertreter von Löwenbräu haben uns gerettet. Das Haus gehörte der Brauerei. Aber jetzt gehört es einer Erbengemeinschaft.
SZ: Wie es aussieht, schaffen es zurzeit vor allem Comedians wie Mario Barth, die Menschen zum Lachen zu bringen.
Hildebrandt: Ich glaube, dieser Mensch ist abgrundtief dumm.
SZ: Aber er füllt immerhin das Berliner Olympiastadion.
Hildebrandt: Also, ich geh doch nicht mit zehn Witzen ins Olympiastadion und blamiere mich vor 70000 Menschen.
(Hildebrandts Frau Renate kommt ins Wohnzimmer.)
Renate Hildebrandt: Dieter, der Mario Barth blamiert sich doch nicht.
Dieter Hildebrandt: Natürlich blamiert er sich. Nicht vor den Leuten, die da hingehen. Er blamiert sich vor sich selber.
Renate Hildebrandt: Ich bin kürzlich von München nach Berlin geflogen, da saß ein Pärchen, Mitte 20. Sie hat ihm auswendig nur Witze von Mario Barth erzählt, über eine Stunde, es sprudelte nur so aus ihr heraus.
SZ: Tja, so wie Sie damals den Kästner auswendig konnten, können die jetzt den Barth.
Dieter Hildebrandt: So ist es.