Westjordanland:Wie ein Palästinenser sein eigenes Silicon Valley baut

Lesezeit: 8 Min.

Der Unternehmer Bashar Masri, 57, hat ein großes Ziel: erst die Stadt, dann der Staat. (Foto: Uriel Sinai/Getty Images)

Die Reißbrett-Siedlung soll ein Tech Hub mitten im Westjordanland werden. Im Coworking-Space stehen 3D-Drucker, das Amphitheater ist fertig, der Swarovski-Laden hat geöffnet. Und trotzdem wirkt Rawabi wie eine Geisterstadt.

Reportage von Alexandra Föderl-Schmid, Rawabi

Schicke Lampen, Designermöbel, Flipcharts, grüne Sitzkissen, coole Loftatmosphäre - wer dieses durchgestylte Coworking-Space betritt, könnte meinen, im Silicon Valley zu sein, in London, Berlin, Tel Aviv oder irgendeinem anderen der angesagten Start-up-Zentren dieser Welt. Doch dieser Raum hier liegt nicht im Silicon Valley, sondern mitten im von Israel besetzten Westjordanland. Wenn man aus dem Fenster blickt, sieht man Baustellen und halb fertige Häuser. Rawabi, nur zehn Kilometer von Ramallah, dem Sitz der Autonomieregierung, entfernt, ist die erste palästinensische Stadt, die auf dem Reißbrett entstanden ist - seit acht Jahren wird daran gebaut.

Der Palästinenser Bashar Masri will hier seine Vision verwirklichen: zuerst eine Stadt, dann ein Staat. Von dem bereits fertigen "Tech-Hub" soll die Entwicklung ausgehen. "Das ist der Katalysator für unsere Start-up-Nation", erklärt der Geschäftsmann, der auch einen US-Pass hat. Mit seinem weit verzweigten Firmenimperium und Projekten in Marokko, Jordanien und Ägypten ist er zum Multimillionär geworden, jetzt will er seiner Heimat etwas zurückgeben.

Gaza-Konflikt
:Keine Zeit für Angst

Die Bewohner der israelischen Kommunen nahe dem Gazastreifen fordern: Der Kreislauf der Gewalt muss endlich durchbrochen werden. Auf den Raketenhagel der Hamas reagieren sie trotzdem erstaunlich gelassen.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Seine Vision fasst er in einen Satz: "Hier entsteht ein palästinensisches Silicon Valley, wo man leben, arbeiten und wachsen kann." 40 000 Menschen sollen einmal in Rawabi wohnen, 5000 Arbeitsplätze im Hightech-Bereich entstehen. Rawabi, so Masri, könnte der Startschuss für einen "Marshallplan für Palästina" sein.

Es ist ein höchst riskantes Experiment. Seit mehr als 50 Jahren ist das Gebiet von Israel besetzt. Immer wieder flammen Konflikte auf, gibt es neue Schikanen der Israelis, klagen die Palästinenser. 2,6 Millionen Palästinenser leben im Westjordanland und inzwischen rund 600 000 jüdische Siedler, deren Zahl stetig zunimmt, auch das ist immer wieder Anlass für Konflikte. Vor allem aber: Es fehlen Jobs. Etwa 18 Prozent der Palästinenser im Westjordanland sind arbeitslos, unter denen, die jünger als 24 Jahre sind, ist es fast jeder Dritte.

Das will Masri ändern, vor allem den jungen Palästinensern, viele von ihnen gut ausgebildet, eine Chance bieten. Sein Manager Mahmoud Thaher erklärt, was man von diesem "Tech-Hub" erwartet: "Hier liegt das größte Potenzial. Von Outsourcing bis zu Forschung und Entwicklung, für lokale, überregionale und internationale Unternehmen, alle können hier eine Firma aufmachen oder Mitarbeiter finden."

Silicon Wadi Rawabi, Palästina Mahmoud Thaher , Q Center Rawabi (Foto: Alexandra Föderl-Schmid)

Platz dafür ist vorhanden. Im Coworking-Space Connect, das ein ganzes Stockwerk umfasst, sind nur drei der rund fünf Dutzend Arbeitsplätze besetzt. Dabei preist der zuständige Manager Zaid Salem die Ausstattung an: "Superschnelles Internet, 3-D-Drucker, technische Unterstützung, zehn kleinere Büros und drei Besprechungsräume. Start-ups, Unternehmer und Einzelkämpfer können sich hier vernetzen." Ein Luxus, von dem man im übrigen Westjordanland nur träumen kann.

Und dennoch fehlt es an Nachfrage. Im ganzen Haus haben sich in den vergangenen eineinhalb Jahren lediglich vier Start-ups angesiedelt - und auch da musste Masri ein wenig nachhelfen. Immerhin: Eines der Start-ups, Imagry, ist sehr erfolgreich, in Zusammenarbeit mit Samsung entwickelt es Software und Technologien für autonomes Fahren.

Auf solche Unternehmen setzt Masri für die Zukunft: Seinen Vorstellungen zufolge könnten Tech-Konzerne wie Google, Microsoft oder Intel hier Innovationszentren einrichten, ein Private-Equity Fonds soll Kapital für Start-ups bereitstellen und ein Rawabi-Institut für die Fortbildung der Arbeitskräfte sorgen. Dann, davon ist der energiegeladene 57-Jährige überzeugt, werden die palästinensischen Gebiete nicht mehr vorwiegend mit Aufständen und Problemen assoziiert, sondern weltweit auch als Hightech-Standort wahrgenommen.

Seine Zukunftspläne trägt Masri mit so viel Begeisterung vor, dass man ihm Realitätsverweigerung oder Mut attestieren muss. Vielleicht braucht es beides, wenn man sich die bisherige Entstehungsgeschichte von Rawabi anschaut.

Rawabi heißt auf Arabisch "Hügel". Auf einem solchen, direkt neben der jüdischen Siedlung Ateret, wurde 2010 mit den Bauarbeiten begonnen. Der Platz war bewusst gewählt, er liegt im sogenannten A-Gebiet des Westjordanlandes, das palästinensischer Verwaltung unterliegt. Rundherum aber ist C-Gebiet, das unter israelischer Kontrolle steht. Diese Aufteilung in Verwaltungszonen war 1995 im Interimsabkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) vereinbart worden. Es sollte eine Übergangslösung sein, bis zur Bildung eines palästinensischen Staates - doch den gibt es bis heute nicht.

Das macht Projektentwicklungen im Westjordanland so schwierig. Masri musste mit den israelischen Behörden über jedes Detail der Infrastruktur verhandeln: über die Wasserversorgung, den Anschluss ans Stromnetz und Straßenverbindungen. Allein die Genehmigung für die - einzige - Zufahrtsstraße von Ramallah nach Rawabi, die knapp drei Kilometer durch das von Israel kontrollierte C-Gebiet führt, dauerte drei Jahre. Bis die Wasserversorgung geklärt war, vergingen zwei Jahre. Israelis und Palästinenser warfen sich wechselseitig Verzögerungen vor, schließlich stimmte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu nach Interventionen der damaligen US-Regierung unter Barack Obama zu.

Mancher Investor war da schon abgesprungen. 451 Kaufverträge für Wohnungen sollen gekündigt worden sein. Dazu beigetragen haben dürften auch gelegentliche Kontrollen durch israelische Soldaten auf der Zufahrtsstraße. Das Risiko, dass der einzige Weg in die Stadt eines Tages völlig blockiert werden könnte, wollten einige Käufer dann doch nicht eingehen. Auch Firmenchefs zögern, ihre Unternehmen hier anzusiedeln.

Schöne neue Welt: 40 000 Menschen sollen einmal in Rawabi leben. (Foto: Jim Hollander/dpa)

Von Anfang an gab es zudem Kritik von palästinensischer Seite an dem Projekt: zu westlich, zu luxuriös, zu protzig, zu steril, heißt es. Dass Masri Baumaterial aus Israel bezog, mit Israelis kooperiere und auf eine Normalisierung der Beziehungen zur Besatzungsmacht hinarbeite, wird ihm ebenfalls zum Vorwurf gemacht. Der palästinensische Präsident Mahmoud Abbas hat sich in Rawabi noch nie blicken lassen.

Masri lässt sich von all dem nicht beirren, er ist beseelt von seinem Plan - obwohl die Kosten wegen der Verzögerungen mittlerweile explodiert sind. 1,4 Milliarden US-Dollar wurden bislang investiert, das Doppelte der ursprünglich veranschlagten Summe. Es ist das mit Abstand größte private Projekt im Westjordanland. Das Geld dafür stammt zu etwa einem Drittel von Masri und seinen Firmen, den Großteil aber steuert das Emirat Katar über seinen Staatsfonds bei. Entsprechend heißt auch das Hauptgebäude Q-Center. Q steht für Quatar, die englische Schreibweise des arabischen Staats. Es ist eine Reverenz an den Geldgeber. Von der palästinensischen Autonomiebehörde erhält Masri eigenem Bekunden zufolge "gar nichts".

Rund um das Q-Center, in dem auch der "Tech-Hub" liegt, und die riesige Plaza sind die Cafés und Restaurants geöffnet. In den Straßen, durch die der Wind pfeift, haben sich Geschäfte angesiedelt - 28 sind es bisher. Klingende Markennamen sind vertreten: von Swarovski über Nine West bis zu Timberland. Aber nur wenige Kunden sind zu sehen. Und wer den Blick hebt, bemerkt, dass die oberen Stockwerke der hohen Sandsteingebäude weitgehend leer stehen, viele Rollläden sind geschlossen, teilweise sind nicht einmal Fenster eingebaut. Ein wenig wirken die Straßen noch wie Kulissen für einen Film. Voller ist Rawabi nur an den Wochenenden, denn dann kommen Palästinenser zum Einkaufen oder zumindest zum Schauen hierher.

Immerhin: Das Amphitheater im römischen Stil, das 15 000 Personen Platz bietet, ist fertiggestellt. An Schulen, einer Klinik sowie einer Moschee wird noch gebaut. 22 Stadtviertel und insgesamt 8000 Wohnungen sieht der Masterplan für die Stadt vor, vier der Viertel sind bisher fertig. Zwischen den Wohnblocks findet man Fitnessparcours und Spielplätze, die Wohnungen sind mit allem Komfort ausgestattet.

Zwischen 650 und 1000 Dollar beträgt der Kaufpreis pro Quadratmeter, erklärt die für Marketing zuständige Managerin Shifa Salah. Das ist deutlich günstiger als in Ramallah. Salah selbst war eine der ersten, die im September 2015 eine der Wohnungen in Rawabi bezogen hat. 1250 Wohnungen sind inzwischen fertiggestellt, 750 davon verkauft, doch nur 200 wurden auch bezogen. Etwa 3500 Menschen leben in Rawabi - zumindest zeitweise. Viele Eigentümer nutzen ihre Appartements nur am Wochenende oder in der Urlaubszeit, manche sehen es auch als Investitionsobjekt und hoffen auf bessere Zeiten.

Auch Murad Tahboub hat seinen Wohnsitz nicht hierher verlegt, sondern pendelt jeden Tag zwischen Rawabi und Ramallah, wo seine Familie wohnt. Aber seine Firma Asal hat seit Juli 2017 ihren Hauptsitz in Rawabis "Tech-Hub" verlegt. Asal ist das größte Softwarehaus in den palästinensischen Gebieten.

Der Gründer kam im Alter von 30 Jahren nach einem Marketing-Studium an einer amerikanischen Universität und einem Arbeitsaufenthalt in den Niederlanden zurück in seine palästinensische Heimat: "Man sprach damals vom Frieden, alles schien erfolgversprechend", erzählt Tahboub. Auf die Idee, ein IT-Unternehmen zu gründen, kam er, "weil wir in den palästinensischen Gebieten keine Souveränität über Grenzen haben, deshalb kam etwas mit Im- und Export nicht infrage". Das Internet kenne jedoch keine Grenzen. "Deshalb habe ich eine Firma gegründet für Softwareentwicklung und Outsourcing."

Kurz nach dem Start am 1. August 2000 in Ramallah begann die zweite Intifada. "Ich habe mir wie die meisten Palästinenser gedacht, das wird nur einige Tage dauern. Dann: einige Wochen, höchstens Monate." Schließlich dauerte der Palästinenseraufstand fünf Jahre.

weil das Internet keine Grenzen kennt, gründete Murad Tahboub ein IT-Unternehmen. (Foto: Alexandra Föderl-Schmid)

Doch inzwischen läuft das Geschäft von Asal. Der erste internationale Kunde war 2005 eine italienische Firma, es folgten Konzerne wie Cisco, Intel und Microsoft, aber auch mit deutschen Firmen hat Tahboub immer wieder zusammengearbeitet. Auf der Messe Cebit in Hannover sei er 2006 der erste Palästinenser gewesen, der einen Stand angemietet habe. "Ich bin aufgefallen mit der palästinensischen Flagge und weil ich Baklava angeboten habe", erzählt er lachend. "International wird immer mehr bekannt, dass Palästina eine Destination für Softwareentwicklung ist und nicht einfach nur eine Region mit politischen Konflikten."

Allerdings, räumt er ein, sei es "schwierig, Dienste anzubieten wegen der politischen Situation". Der 48-Jährige, der auch über einen jordanischen Pass verfügt, hat keine Schwierigkeiten zu reisen, "so wie die meisten Geschäftsleute", wie er erklärt. Anders sei dies für seine Mitarbeiter. Als Microsoft-Vertreter aus den USA ein Treffen mit Asal-Mitarbeitern in Israel anberaumt hatten, war das für einen 23 Jahre alten Palästinenser die Chance, zum ersten Mal eine Ausreisegenehmigung aus dem Westjordanland zu bekommen "und bei einem fünfminütigen Extrastopp das Meer zu sehen", erzählt Tahboub.

"Wir haben hier alles. Mein Weg zur Arbeit dauert zwei Minuten"

250 Mitarbeiter hat seine Firma im Westjordanland, die meisten arbeiten in Rawabi im "Tech-Hub". Mit 25 Prozent ist der Frauenanteil vergleichsweise hoch. Tahboub, selbst Vater dreier Töchter, fördert dies, er lässt auch Homeworking und flexible Arbeitszeiten zu.

Husam Kahalah hat seinen Arbeitsplatz bei Asal vor rund einem Jahr verlassen und ist ein Stockwerk höher in den Coworking-Space gezogen. Der 33-Jährige hat fünf Jahre für Asal gearbeitet, dann wechselte er zu Getaway, einem deutschen Carsharing-Start-up. Der Palästinenser entwickelt Android- und IOS-Anwendungen für das Unternehmen mit Sitz in Berlin. Er arbeite allein hier, auch in der Türkei gebe es noch Entwickler, erzählt Kahalah. Dank "fantastischer Internetverbindungen" könne er hier wunderbar arbeiten und leben. Verglichen mit dem deutschen Markt bekomme er vielleicht wenig bezahlt, "für uns hier ist das aber gut, was wir bekommen".

Kahalah ist auch privat nach Rawabi gezogen. Der Vater zweier Kinder lebt mit seiner Familie in einer 185 Quadratmeter großen Mietwohnung, die er für 150 000 Dollar kaufen möchte. "Wir haben hier alles. Mein Weg zur Arbeit dauert zwei Minuten", schwärmt er über die Bedingungen in Rawabi.

Sein einstiger Chef Tahboub hofft, dass mehr Firmen Aufträge in die palästinensischen Gebiete vergeben. Naheliegend wären israelische Firmen, die immer mehr Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in andere Länder wie etwa die Ukraine vergeben. Wegen der politischen Schwierigkeiten wagen sich aber nur wenige Israelis in die palästinensischen Gebiete. Tahboub hofft aber auch auf Interessenten aus Europa: "Europäische Unternehmen gehen nach Indien, China und in andere Destinationen. Wir könnten ihnen Optionen gleich günstig und näher anbieten."

Denn die elf Universitäten im Westjordanland und im Gazastreifen würden viele junge Leute ausbilden, die danach aber keinen Job finden. "Eigentlich ist es ganz einfach: Wir haben ein Angebot von vielen gut qualifizierten Personen, anderswo besteht eine große Nachfrage. Man muss beides zusammenbringen", erklärt Tahboub und rechnet vor: "3000 Ingenieure beenden jedes Jahr ihr Studium, nur ein Drittel findet eine Anstellung. 2000 werden jedes Jahr arbeitslos oder landen in einem anderen Bereich. Für mich ist das vergeudetes Talent", sagt der Asal-Gründer. Denn wer innerhalb eines Jahres keinen Job finde, dessen Kenntnisse seien rasch veraltet.

Besser könnte es auch Bashar Masri nicht beschreiben. Die jungen, gut ausgebildeten Palästinenser seien "eine Goldmine für Technologieunternehmen weltweit", sagt der Investor. Jetzt müssten nur alle nach Rawabi kommen, "damit das neue Palästina entstehen kann - allen Schwierigkeiten zum Trotz". Bashar Masri ist kein Mann, der aufgibt.

© SZ vom 26.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Frauen im Nahostkonflikt
:"Es gibt keine Träume in Gaza"

Frauen leiden besonders unter der langjährigen Herrschaft der Hamas. Sie müssen sich verschleiern und den Männern gehorchen. Die Hoffnung auf Freiheit und Frieden haben viele aufgegeben.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: