Die Inflationsrate in Deutschland ist im September deutlich zurückgegangen: Die Preise stiegen im Vergleich zum Vorjahresmonat nur noch um 4,5 Prozent, teilte das Statistische Bundesamt am Donnerstag in einer vorläufigen Schätzung mit. Im August hatte die Preissteigerung noch 6,1 Prozent betragen. Damit liegt die Rate jetzt so niedrig wie nicht mehr seit Ausbruch des Ukraine-Krieges. Im Februar 2022 hatte es mit 4,3 Prozent zum letzten Mal eine Vier vor dem Komma gegeben. Danach waren die Energiepreise wegen den Krieges nach oben geschossen.
Experten erwarten, dass die Inflationsrate in den kommenden Monaten noch weiter fällt. Ob die Europäische Zentralbank (EZB) das Problem generell in den Griff bekommt, wird sich allerdings erst im Frühjahr 2024 zeigen.
Deutschland vollzog im September eine Entwicklung nach, die in anderen europäischen Ländern schon früher einsetzte: In Frankreich und Belgien betrug die Inflationsrate bereits im Juni nur noch rund vier Prozent, in Spanien sogar nur etwa zwei Prozent. Der Hauptgrund dafür sind paradoxerweise zwei Maßnahmen, die die Bundesregierung im Sommer 2022 einführte, um die Bundesbürger von den hohen Preisen zu entlasten: Damals galt in den Monaten Juni, Juli und August das günstige Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, zudem gab es für Autofahrer einen Tankrabatt. Im September 2022 liefen diese Erleichterungen aus, deshalb stieg die Inflationsrate damals sprunghaft. Dieser Sprung führt nun in diesem September wegen des Vorjahresvergleichs dazu, dass die Inflationsrate automatisch sinkt. Experten nennen dies einen "Basiseffekt".
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, schätzt, dass dieser Effekt im September "allein etwa einen Prozentpunkt der insgesamt gesunkenen Inflationsrate um 1,6 Prozentpunkte (von 6,1 auf 4,5 Prozent) ausmacht". Die restlichen 0,6 Prozentpunkte seien Folge davon, dass die Preise generell langsamer steigen. Drei Inflationswellen ebben nach Erkenntnissen des Ökonomen gerade ab: bei Energie, Nahrungsmitteln und sonstigen Waren. Ursachen dafür sind die Beruhigung der Lage bei den Energiepreisen im Vergleich zum Sommer 2022 und die Tatsache, dass die Lieferketten wieder funktionieren.
Es besteht die Gefahr, dass die Teuerung im Lauf des Jahres 2024 wieder anzieht
"Nur bei Dienstleistungen bleibt die Lage kritisch, vor allem wenn die relativ starken Lohnerhöhungen nach und nach auf die Preise umgelegt werden", sagt Krämer. Deshalb bestehe auch die Gefahr, dass im Lauf des Jahres 2024 die Inflation wieder anzieht. Die Europäische Zentralbank müsse wachsam bleiben. "Wir haben in Deutschland und Europa ein lang anhaltendes Inflationsproblem."
In den kommenden Monaten dürfte die Preissteigerung aber erst einmal weiter zurückgehen. "Wir erwarten im Oktober eine Inflationsrate von gut vier Prozent, im November von etwa 3,5 Prozent", sagt Ulrich Kater, Chefvolkswirt der Deka-Bank. Auch dafür ist ein Basiseffekt verantwortlich: In den Vorjahresmonaten war die Inflation besonders stark gestiegen, entsprechend fällt die Preissteigerung ein Jahr später geringer aus. Im Dezember allerdings dürfte die Inflation dann aber noch einmal spürbar anziehen. Das liegt wieder an einer Maßnahme der Bundesregierung: Sie hatte im Dezember 2022 die Gas-Abschlagszahlungen für Bundesbürger übernommen und damit dafür gesorgt, dass die Inflationsrate damals zurückging.
Die wirklich entscheidenden Monate kommen auch für den Ökonomen Kater im Frühjahr 2024. "Dann sind alle Sondereffekte durch die Wirren bei den Energiepreisen verarbeitet, und es zeigt sich, wie groß das Inflationsproblem wirklich ist", sagt er. Sinke die Inflationsrate dann nicht deutlich unter drei Prozent, werde es noch einmal kritisch, das heißt, es könnte zu weiteren Zinserhöhungen kommen. Bis dahin wird erwartet, dass die EZB den Leitzins in etwa auf dem jetzigen Niveau von 4,50 Prozent lässt.
"Die Inflationsrate dürfte vor dem Hintergrund eines robusten Lohnwachstums auch mittelfristig deutlich oberhalb von zwei Prozent liegen", schreibt die Bundesbank in ihrem aktuellen Monatsbericht. Das Ziel der EZB ist es, die Inflationsrate auf zwei Prozent zu drücken. Für Bundesbank-Präsident Joachim Nagel kann sich die EZB deshalb noch nicht nicht zurücklehnen. "Wir haben viel getan, indem wir bislang zehn Erhöhungen umsetzten, und vielleicht wird noch mehr kommen, wenn die Daten zeigen, dass weitere Schritte gerechtfertigt sind", sagte er dem Magazin Central Banking.
Doch Ökonomen betonen auch die positive Wirkung des schlagartigen Rückgangs der Teuerung im September. "Davon geht eine wichtige Signalwirkung für den Erfolg der Inflationsbekämpfung aus", sagt Fritzi Köhler-Geib, Chefökonomin der KfW. Das könne dazu beitragen, den Preisauftrieb auch in den kommenden Monaten kontinuierlich abzuschwächen. Denn entscheidend sind die langfristigen Inflationserwartungen von Verbrauchern und Unternehmen. So wie diese durch den Ukraine-Krieg drastisch gestiegen sind, könnte es nun zu einer sich verstärkenden Dynamik nach unten kommen.
Sebastian Dullien, Direktor des gewerkschaftsnahen IWK-Instituts hofft, "dass die Dynamik hoher Inflationsraten in Deutschland gebrochen ist". Die EZB sollte deshalb ihre Zinsen nicht weiter erhöhen. Die bisherigen Zinserhöhungen würden die ohnehin schwache Konjunktur 2024 bremsen, und weitere Erhöhungen würden die Inflation kurzfristig nicht dämpfen.
Die Vier vor dem Komma bei der Inflationsrate ist auch eine positive Nachricht für Anleger. "Dadurch geht der negative reale Zins zurück", sagt Ökonom Krämer. Der Geldwertverlust für Sparer wird nach und nach geringer. Für Tages- und Festgeld zahlen die Banken mit den besten Konditionen inzwischen wieder vier Prozent. Das heißt, dass Anlegern unter Berücksichtigung der Inflationsrate jetzt deutlich mehr von ihrem Ersparten übrig bleibt als vor einem halben Jahr oder vor einem Jahr. Übers Jahr 2023 verlieren Sparer in Deutschland durch die Inflation rund 150 Milliarden Euro an Kaufkraft, rechnete das Finanzportal Tagesvergleich.net aus - 1810 Euro pro Kopf.