Wolfgang Clement hat sich offenbar verkalkuliert: Die Arbeitsmarktreformen, die gegen manchen Parteikritiker noch mit brachialer Gewalt durchgesetzt wurden, werden vom Volk doch nicht ganz so ohne weiteres geschluckt. Erstaunlich lange hielten die potenziellen Hartz IV-Opfer ruhig, doch nun verschafft sich der geballte Volkszorn in riesigen "Montagsdemonstrationen" Luft.
Die Wut Clements, mit den Schergen des Honecker-Regimes praktisch in einen Topf geworfen zu werden, ist nachvollziehbar. In der Tat besteht ein Unterschied zwischen der Arbeitmarktpolitik einer demokratisch legitimierten Regierung und den Menschenrechtsverletzungen eines totalitären Systems.
Doch zu beklagen braucht sich der Wirtschaftsminister dennoch nicht: Indem sich die Demonstranten ein symbolträchtiges Label aufkleben, zeigen sie nur, dass sie von der Regierung gelernt haben. Die verwendet millionenschwere Werbeetats, um mit verniedlichenden Schlagworten wie "Agenda 2010" die Menschen für dumm zu verkaufen.
Mit dem Aufbruch in eine neue Dekade hat der zusammengestrichene Leistungskatalog der Sozialversicherungen nämlich ebensowenig zu tun wie die derzeitigen Montagsdemonstrationen mit dem Freiheitswillen aufrechter Demokraten.
Kompliziert
Joachim Gauck, der frühere Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, mag recht haben, wenn er die Montagsdemonstranten des Jahres 2004 "töricht und geschichtsvergessen" nennt. Denn die Forderungen der Demonstranten im Jahr 1989 waren in ihrer Einfachheit bestechend und mehr als berechtigt.
Die Parolen auf den Straßen Magdeburgs, Leipzigs und Wismars im August 2004 klingen hingegen bisweilen dumpf und mit der Berechtigung ist es um einiges komplizierter geworden.
Doch wer hat mit der sträflichen Vereinfachung komplizierter Sachverhalte angefangen? Die Regierung Schröder braucht sich nicht zu wundern, dass das Volk den hohlen Versprechungen der Hartz IV-Reform nun ein ebenso unstrukturiertes "Nein" entgegensetzt.
Dauerhafte staatliche Hilfen sollten am Existenzminimum orientiert sein
Bei differenzierterer Betrachtung wird hingegen klar: Bei Hartz IV mischen sich berechtigte Anliegen des Gesetzgebers mit unverschämten Zumutungen, die sogar den Rechtsstaat in Frage stellen.
Zu den legitimen Punkten der Reform zählt das Vorhaben, mit dem bisherigen Arbeitslosengeld eine "Sozialhilfe de Luxe" aus dem deutschen Versorgungskatalog zu streichen. Denn abgesehen von den derzeitigen Finanzierungslöchern war dieses System auch unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten fragwürdig. Oder warum bekommt ein Arbeitlosengeldbezieher auf Dauer mehr Geld als ein Sozialhilfeempfänger, nur weil er zu irgend einem Zeitpunkt seines Lebens in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat?
Dem Charakter einer Versicherung entsprach das bei langer Bezugsdauer der Hilfen nicht, vielmehr waren in diesem Fall nicht nur Sozialhilfeempfänger sondern auch Arbeitlosenhilfenbezieher auf die Güte des Staates angewiesen. Dessen Hilfen sollten dann aber am Existenzminimum orientiert sein und nicht am hehren Arbeitnehmerstatus aus grauer Vorzeit.
An einem wesentlichen Punkt hat Hartz IV Enteignungscharaker
Einen Anspruch auf eine Versicherungsleistung haben allerdings alle Arbeitnehmer, die über Jahrzehnte hinweg namhafte Beträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt haben. Zu dieser Gruppe zählen häufig genau jene Menschen, die im Falle des Arbeitsplatzverlustes am stärksten von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind: Mitte fünfzig und in den Hierarchieebenen der Arbeitswelt irgendwo in der Mitte.
Der Arbeitsminister wird zwar nicht müde, die großen Chancen zu beschreiben, die diesen Arbeitnehmern durch Hartz IV nun eingeräumt werden. Allein: Warum Arbeitgeber diese Leute nach dem 1. Januar 2005 verstärkt einstellen sollten, erschließt sich dem geneigten Zuhörer des Ministers allerdings nicht so recht. Die Arbeit wird durch Hartz IV ja keineswegs billiger, da die Sozialversicherungsbeiträge mitnichten den stark eingeschränkten Leistungen der Arbeitslosenversicherung nach unten hin angepasst werden.
Der Förderungsaspekt der Hartz-IV-Reformen bleibt hier also reine Rhetorik, während der Forderungsaspekt aber schon bedrohlich zum Vorschein kommt. Dass Langzeitarbeitnehmer deswegen wütend werden, ist vollkommen verständlich. Denn durch ihre über Jahrzehnte erbrachten Beiträge müssten sie nach dem Wegfall der Arbeitslosenhilfe einen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben, der deutlich über achtzehn Monaten liegt. Dass dafür kein Geld da ist, kann diesen treuen Beitragszahlern nicht zum Vorwurf gemacht werden. Sie können schließlich nichts dafür, dass die Bundesagentur für Arbeit vierzig Prozent ihrer Mittel für Vermittlungsleistungen verpulvert, für die kein Mensch freiwillig bezahlen würde. An diesem Punkt hat die Hartz IV-Reform daher tatsächlich Enteignungscharakter.
Verfassungsrechtliche Bedenken
Doch nicht nur die langjährigen Beitragszahler haben einen Anspruch auf eine adäquate Absicherung, in unserem Rechtsstaat steht vielmehr jedem Versicherten eine angemessene Gegenleistung zu. Darauf wies der Richter am Bundessozialgericht, Wolfgang Spellbrink, hin. Nach den Leistungskürzungen des Hartz IV-Paketes ist es nach seiner Auffassung verfassungsrechtlich nicht mehr zu rechtfertigen, Beiträge in Höhe von 6,5 Prozent des Bruttolohnes für diese Versicherung zu erheben.
Denn leiste ein soziales Zwangs-Sicherungssytem deutlich weniger, als der Bürger bei privater Vorsorge erzielen könnte, delegitimiere sich dieses System unter dem Gesichtspunkt der im Grundgesetz festgeschrieben Persönlichkeitsrechte. Die allgemeine Handlungsfreiheit werde verletzt, ohne dass dies mit einer adäquaten Gegenleistung begründet werden könnte, machte Spellbrink klar.
Bei Hartz IV besteht daher dringender Nachbesserungsbedarf. Menschen, die lange in das Zwangssystem eingezahlt haben, dürfen nun nicht ihrer rechtmäßigen Ansprüche beraubt werden - ein Stufenmodell für erhöhte Ansprüche auf Arbeitslosengeld könnte hier eine Lösung sein. Bei einer Absenkung der Leistungen ohne eine gleichzeitige Senkung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung bleibt die Reform zudem auf halbem Wege stecken. Das eigentliche Ziel - die Senkung der Arbeitlosigkeit - dürfte so verfehlt werden.
Erhöhung der Gewinnsteuern würde sich anbieten
Saniert werden muss der Staatshaushalt wohl oder übel durch andere Mittel. Anbieten würde sich dazu beispielsweise die Erhöhung der so genannten Gewinnsteuern, das heißt der veranlagten Einkommen-, Körperschaft- und Gewerbesteuer sowie des Zinsabschlags. Der Anteil dieser Steuerarten am gesamten Steueraufkommen fiel im Jahr 2002 auf lächerliche 12,2 Prozent, während er 1960 noch bei 34,7 Prozent lag. Die Regierung sollte sich dessen besinnen, bevor sie durch das Bundesverfassungsgericht daran erinnert wird.