Welthandel:Warum die EU Jagd auf Handelsverträge macht

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Die EU befindet sich auf Rekordjagd: Nach Anlaufschwierigkeiten öffnet sie den heimischen Unternehmen einen ausländischen Markt nach dem anderen. (Foto: dpa)
  • Die EU schließt derzeit ein Handelsabkommen nach dem anderen - und weitere Verträge mit Vietnam und Singapur sind vereinbart.
  • Die Verhandlungswut ist auch eine Reaktion auf die Abschottungspolitik von US-Präsident Donald Trump.
  • Einige der Verträge sind jedoch durchaus heikel - und ein Deal macht sogar richtig Ärger.

Von Björn Finke, Brüssel, und Alexander Hagelüken

"Ich habe meine Worte wohl abgewägt, wenn ich sage, dass dies ein historischer Augenblick ist", tönte EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker Ende Juni. Und zückte sogleich einen Superlativ: Durch den jetzt vereinbarten Vertrag mit Brasilien und den drei weiteren Mitgliedern des südamerikanischen Wirtschaftsblocks Mercosur fielen Zölle von vier Milliarden Euro im Jahr weg. "Es handelt sich damit um das umfangreichste Handelsabkommen, das die EU je geschlossen hat", sagte er. Der Luxemburger hat sogar noch mehr zu bieten. Schon seit Februar gilt ein Vertrag, der Exporte nach Japan erleichtert, das zusammen mit Europa für fast ein Drittel der weltweiten Wirtschaftleistung steht. Und vor zwei Jahren trat das Ceta-Abkommen mit Kanada in Kraft.

Kein Zweifel, die EU befindet sich auf Rekordjagd: Nach Anlaufschwierigkeiten öffnet sie den heimischen Unternehmen einen ausländischen Markt nach dem anderen. Weitere Abkommen mit Vietnam und Singapur sind vereinbart, ein alter Vertrag mit Mexiko wurde überarbeitet. Mit China, Australien, Neuseeland und anderen Staaten peilt Brüssel ebenfalls Ergebnisse an. Insgesamt machen nun bereits 41 Verträge mit 72 Ländern hiesigen Exporteuren das Leben leichter.

Mit der neuen Verhandlungswut reagiert Brüssel auf eine Zeitenwende: Seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten gilt Freihandel der weltweit größten Wirtschaftsnation USA nicht mehr als schützenswerte Basis des westlichen Wohlstands. Sondern als Ausbeutung der Vereinigten Staaten, die jetzt mit beispiellosen Drohungen und Strafzöllen beendet werden muss.

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Die EU sucht deshalb neue Partner. Doch bevor sie zum Export-Dating bereit war, musste sie ihre Strategie ändern. Bis mindestens Mitte der Nullerjahre galten bilaterale Verträge mit einzelnen Ländern als schlecht. Der damalige EU-Kommissar Pascal Lamy setzte auf den seit 1999 angebahnten Doha-Vertrag, der den heute 164 Mitgliedern der Welthandelsorganisation WTO von Asien bis Afrika gleichermaßen Vorteile bescheren sollte. Bilaterale Verträge empfand der französische Sozialdemokrat hingegen als Rosinenpickerei, mit der Europa ärmere und für Exportfirmen uninteressante Länder im Regen stehen ließ.

Erst als aus Doha auch unter dem neuen WTO-Generalsekretär Lamy so gar nichts werden wollte, schaltete Brüssel um. Die wirtschaftspolitisch liberaleren neuen Handelskommissare von Peter Mandelson bis Cecilia Malmström strebten zweiseitige Verträge zwischen der EU und unterschiedlichen Staaten an - oder auch mal mit einem Wirtschaftsblock wie dem Mercosur. Allerdings erwies sich auch das als zäh. So war der Mercosur-Block uneinig, Japan zögerte lange, weil es seine Bauern vor Konkurrenz schützen wollte.

Europa demonstriert, dass der Freihandel trotz Trump lebt

Erst die Wahl von Donald Trump 2016 beschleunigte schließlich die Gespräche. Der Freihandelsgegner beerdigte sofort die angepeilten Abkommen der USA mit Europa (TTIP) und elf Pazifikstaaten wie Japan (TPP). Vielen Regierungen weltweit erscheint es auf einmal attraktiver, Hürden im Handel mit Europa abzubauen, um ihren Exportfirmen zu helfen. Daher liegt es zum Teil an Trump, dass dieses Jahr sowohl der EU-Japan-Vertrag in Kraft trat als auch der Mercosur-Deal gelang - die Abkommen umfassen Märkte mit zusammen 900 Millionen Menschen.

Europa erreicht so zwei Ziele. Zum einen demonstriert es mit anderen Staaten, dass der Freihandel trotz Trump lebt und der Präsident die USA zunehmend isoliert. Zum anderen verweist Brüssel darauf, wie viel solche Abkommen bringen. So verwandelte sich das Handelsdefizit der EU mit Südkorea seit Abschluss des Vertrags in einen Überschuss. Die Ausfuhren nach Kanada stiegen im ersten Jahr des Abkommens um 15 Prozent. Und Mercosur-Staaten belegen europäische Chemie- und Maschinenlieferungen bisher mit Zöllen von bis zu 20 Prozent - bei Autos sind es sogar 35 Prozent. Der Vertrag, der frühestens 2022 in Kraft treten soll, schafft da Abhilfe.

Geht es nach dem designierten Handelskommissar Phil Hogan, werden viele weitere Verträge hinzukommen. Der Ire, bislang Agrarkommissar, war am Montagabend vor den Handelsausschuss des Europaparlaments geladen. Jeder künftige EU-Kommissar unter Präsidentin Ursula von der Leyen wird im Parlament befragt. Die Abgeordneten können die Berufung ablehnen, wobei Hogan nicht als gefährdet gilt. Der konservative Politiker, wegen seiner Körpergröße in Brüssel als "Big Phil" bekannt, hat bereits vorab Fragen schriftlich beantwortet. Zu Handelsverträgen sagt Hogan dort, er wolle "neue günstige Gelegenheiten" suchen, also laufende Gespräche abschließen und neue Verträge anstoßen.

Bei den laufenden Verhandlungen ist ein Projekt besonders brisant: ein Vertrag mit China zum Schutz von Investitionen. Europäische Unternehmen klagen seit Langem, dass sie unfair behandelt werden. Wer im Reich der Mitte Geschäfte macht, muss sich gefügig verhalten und oft einen heimischen Partner beteiligen, der zuweilen Patente und anderes Know-how absaugt. Umgekehrt expandieren chinesische Firmen, darunter Staatskonzerne, weithin ungehindert nach Europa. Die EU will nun erreichen, dass ihre Unternehmen in China genauso fair behandelt werden.

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Verhandler hoffen, dass die chinesische Regierung und die EU das Abkommen im September 2020 unterzeichnen können, bei einem EU-China-Gipfel in Leipzig. Dass dies in Deutschland geschehen soll, ist kein Zufall. Die Bundesregierung übernimmt in der zweiten Hälfte nächsten Jahres die EU-Ratspräsidentschaft. Die Gespräche mit China begannen bereits 2013, aber die Erfolgschancen sind zuletzt gestiegen - dank Trump und seiner Zollattacken auf Peking.

"Es gibt Bewegung", sagt Markus Beyrer, Geschäftsführer des europäischen Unternehmensverbands Business-Europe. Bernd Lange, SPD-Politiker und Vorsitzender des Handelsausschusses im EU-Parlament, sieht auch bei China Interesse daran, dass bei Handel und Investitionen zwischen Wirtschaftsmächten Regeln gelten und nicht bloß das Recht des Stärkeren. "China braucht Freunde", sagt ein Brüsseler Insider und meint Trumps Attacken. Andererseits wecken Pekings Pläne, auch ausländische Firmen künftig mit Sozialpunkten stärker zu überwachen, Zweifel an einem Deal.

Neben Verträgen wie dem mit China muss sich der designierte EU-Kommissar Hogan auch der Krise der Welthandelsorganisation WTO widmen. Präsident Trump glaubt, dass die Regeln der WTO die Vereinigten Staaten benachteiligen, und blockiert daher die Berufung neuer Richter für das Schiedsgericht. Von Mitte Dezember an wird dieses vermutlich nicht mehr arbeitsfähig sein - die Rolle der Genfer Organisation als Hüterin der Regeln des Welthandels ist gefährdet. Hogan verspricht in seinen schriftlichen Antworten ans Europaparlament, bis Ende 2020 eine große Reforminitiative für die WTO anzustoßen. Dafür will der 59-Jährige mit den USA und China zusammenarbeiten.

Der Mercosur-Deal macht Ärger

In der Handelsabteilung der EU-Kommission wird zudem ein neuer Posten geschaffen: der des Chief Trade Enforcement Officers. Dieser oberste Durchsetzer soll sicherstellen, dass Partner ihre Verpflichtungen aus den Handelsverträgen einhalten. Das wird umso wichtiger, als die Abkommen nun oft umfangreiche Regeln zu Sozial- und Umweltstandards enthalten. Hogan gelobt, "die Um- und Durchsetzung von Klima-, Umwelt- und Arbeitsschutzstandards in unseren Handelsverträgen zu überwachen", sei ein wichtiger Teil seiner Tätigkeit als Kommissar.

Diese Standards sollen auch dazu dienen, Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Denn Brüssel kann die ganzen schönen Handelsverträge nur dann abschließen, wenn die Bürger Europas diese Politik unterstützen. Schließlich müssen die Regierungen zustimmen, plus das Europaparlament und häufig die nationalen Parlamente. Der Widerstand kann heftig sein: In Deutschland sind die Massendemonstrationen gegen das geplante US-Abkommen TTIP unvergessen. Gegner warnten vor Schäden für Verbraucher und Umwelt sowie vor dubiosen Klagerechten von Konzernen. 2016 scheiterte beinahe das Kanada-Abkommen Ceta an einem belgischen Regionalparlament, das den Vertrag wegen der Klagerechte blockieren wollte.

Jetzt gibt es Ärger um den Mercosur-Vertrag. Politiker in Frankreich, Irland, Luxemburg und Österreich drohen, das Abkommen durchfallen zu lassen - wegen der laxen Haltung des brasilianischen Präsidenten gegenüber den Waldbränden am Amazonas. Allerdings muss darüber erst in anderthalb Jahren entschieden werden. Auch die Verträge mit Japan, Vietnam und Singapur haben die EU-Staaten noch nicht endgültig angenommen, und dann sollen ja viele weitere dazukommen: reichlich Anlass also für Streit und Proteste.

Eines der wichtigsten neuen Abkommen könnte mit einem alten Bekannten abgeschlossen werden: Großbritannien will nach dem Austritt aus der EU mit Brüssel den ehrgeizigsten und umfassendsten Handelsvertrag der Welt vereinbaren, auf dass Geschäfte über den Ärmelkanal nicht schwieriger werden. Da das Parlament in London und die Briten beim Thema Brexit tief zerstritten sind, dürften diese Gespräche sehr zäh werden. Viel zu tun für Big Phil, den künftigen Handelskommissar.

© SZ vom 01.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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