Neue Regierung:Wirtschaft und Grüne? Passt doch!

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Na so etwas: Bei den Grünen hört man plötzlich gute Worte über die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft, und in der Wirtschaft hört man auf einmal freundliche Worte über die Grünen. (Foto: Michele Tantussi/Reuters)

Lange galten die Grünen vielen Unternehmern als Schreckgespenster. Heute finden beide Seiten vor allem beim Klimaschutz zusammen. So viel Aufbruch war lange nicht.

Kommentar von Marc Beise

Nach der Bundestagswahl und vor Koalitionsfindung und Regierungsbildung macht sich bei manchen Bürgern bereits Frust breit: Können die nicht endlich loslegen? Aber diese Ungeduld verkennt die Dimension des Politikwechsels, der gerade in Berlin stattfindet. Wenn SPD, FDP und Grüne zueinanderfinden wollen, ist das ein großes Projekt.

Inhaltlich müssen Positionen nebeneinandergelegt und ineinander verzahnt werden, die auf den ersten Blick weit auseinanderliegen. Atmosphärisch müssen Parteien zueinander Vertrauen fassen, die sich bisher in gegenseitiger Abneigung gefallen haben. Aber siehe da: Es geht. Plötzlich sitzen Vertreter von FDP und Grünen, die sich lange spinnefeind waren, konstruktiv-gelassen beieinander; hässliche Spielchen gibt es fast nur noch in der Union. Die hat sich damit zu Recht ins Abseits manövriert - womit der Blick frei ist auf die, die einen Neuanfang wagen wollen.

Viele Akteurinnen und Beobachter verlassen ihre Schützengräben und können sich plötzlich Zusammenarbeit vorstellen, wo das vorher undenkbar erschien. Das bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis der Antipoden zueinander, sondern betrifft viele Felder. Bei den Grünen hört man gute Worte über die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft, mit der zusammen die Wende in der Klimapolitik gestaltet werden soll, und in der Wirtschaft hört man freundliche Worte über die Grünen, denen als frühe Warner heute eine hohe Glaubwürdigkeit zugebilligt wird.

Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang ein Interview des gerade in konservativen Kreisen einflussreichen Unternehmers Karl Haeusgen. Der Präsident des Verbands des Deutschen Maschinen- und Anlagenbaus (VDMA), in dem viele bekannte Unternehmen und der gesammelte Stolz der deutschen Exportwirtschaft organisiert sind, spricht sich darin für eine Koalition aus SPD, Grünen und FDP aus; noch im Juni hatte er für eine Jamaika-Koalition unter Führung der Union votiert.

"Inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass eine Ampel die bessere Lösung ist", sagte Haeusgen der Wirtschaftswoche. "Die Union hat in einem solchen Umfang verloren, dass die Legitimation für das Kanzleramt und das Führen einer Regierung nicht mehr gegeben ist. Hinzu kommen die vielen Dissonanzen innerhalb der Union vor der Wahl und auch jetzt noch."

Die Grünen als Zerstörer des Wohlstandes? Das glaubt selbst in den Chefetagen kaum noch jemand

Ähnliches hat man in Baden-Württemberg beobachten können. Dort traf man vor zehn Jahren vorzugsweise Mittelständler, für die ein grüner Ministerpräsident mindestens gleichbedeutend mit dem Untergang des Abendlands gewesen wäre. Nach mancher Affäre ist die CDU aus dem Spiel, viele Wirtschaftsführer sind sogar bekennende Fans von Winfried Kretschmann - und einige haben ihn bei der Landtagswahl sogar klammheimlich gewählt.

Damit ist der Boden bereitet für eine Annäherung vor allem bei dem wichtigsten aller Themen, dem Klimaschutz. Lange haben beide Welten gegeneinander gearbeitet, die einen verteufelten den Kapitalismus als kompromisslosen Umweltzerstörer, die anderen warnten vor den Kosten des Umweltschutzes. Jetzt geben die Grünen zu, dass sie für die Klimawende die Innovationskräfte der Unternehmen brauchen, die Unternehmen erkennen, dass der Klimaschutz keine Privatsache mehr sein kann und dass hier übrigens sogar Geschäftsmöglichkeiten schlummern. Selbst in der hartgesottenen Finanzbranche, wo meistens immer noch Geld vor Moral geht, ist Sustainable Finance ein Riesenthema geworden.

Grüne Technologien als Chance für die Wirtschaft, Vollgas für grünen Wasserstoff, Brennstoffzellen, Batterien und synthetische Kraftstoffe, für Greentech und Kreislaufwirtschaft, für Grünstrom, für Sonnen- und Windenergie: Das gilt auch in Wirtschaftskreisen mittlerweile als Gebot der Stunde.

Kurzum: So viel Aufbruch war lange nicht, und wenn das nun in ein kluges Regierungsprogramm gegossen werden sollte, darf es auch ruhig noch ein wenig dauern.

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