Lieferdienste:Die Ausbeutung hat Grenzen

Lesezeit: 2 min

Illustration: Bernd Schifferdecker (Foto: N/A)

Gorillas' fristlose Kündigungen sind nicht bloß eine moralische Bankrotterklärung, sondern zeugen auch von unternehmerischem Versagen.

Von Simon Groß

Vor etwa anderthalb Jahren wurde der Lieferdienst Gorillas gegründet. Das muss man sich erst einmal in Erinnerung rufen, weil dort ja seit gefühlt drei Jahren alles drunter und drüber geht. Und das hat auch mit dem Gründungsmythos des Berliner Start-ups zu tun. Teil dessen war eine Kampfansage: In zehn Minuten lässt sich vom Schokoriegel bis zum Feierabendbier alles Mögliche direkt bis vor die heimelige Wohnzimmercouch liefern. Es ist ein Konzept, das perfekt in die Zeit der pandemieverstärkten häuslichen Bequemlichkeit passt - ein Konzept, das Gorillas zwar nicht erfunden, aber eben auf die Spitze getrieben hat. Schnell wurde klar: Die Kampfansage richtete sich nicht nur an konkurrierende Lieferdienste, sie richtet sich zwangsläufig auch an die eigenen Fahrer. Und die haben offenbar immer weniger Lust, sich das gefallen zu lassen.

Seit vergangener Woche kam es an mehreren Gorillas-Standorten in Berlin und Leipzig zu neuen Streiks und Blockaden. Das Management reagierte darauf mit einer eigenen Form der Eskalation und gab an, allen fristlos zu kündigen, die sich aktiv an den Protesten beteiligt hatten. Diese Begründung stand nicht einmal auf den Kündigungsschreiben, die lieferte das Unternehmen erst telefonisch hinterher. Auf Anfrage der Süddeutschen Zeitung äußerte sich das Start-up dagegen fast schon wohlwollend: Eigentlich habe man nichts gegen Streiks, aber weil diese nicht gewerkschaftlich getragen und damit unzulässig seien, sehe man sich gezwungen, "diesen rechtlichen Rahmen nun durchzusetzen".

Die Fahrer fordern vieles, was eigentlich selbstverständlich sein sollte

Das kann man so machen, kommt aber halt, freundlich formuliert, nicht gut an. Weder bei den übrig gebliebenen noch bei zukünftigen Beschäftigten. Die Konkurrenz wird das freuen, sie nehmen die Verprellten gerne. Für die Fahrer wird sich damit leider im Großen und Ganzen wahrscheinlich nur das Logo auf der Jacke ändern, mit der sie herumfahren. Denn auch die anderen Lieferdienste sind nicht für ihre Arbeitnehmerfreundlichkeit bekannt. Es ist also nicht bloß eine moralische Bankrotterklärung von Gorillas, so mit seinen Beschäftigten umzugehen, sondern zeugt letztlich auch von unternehmerischem Versagen. PR-mäßig ist das rücksichtlose Verhalten des Managements jedenfalls eine einzige Katastrophe: Gorillas ist auf dem besten Weg zum Symbol einer neuen Form von Arbeitnehmerausbeutung zu werden.

Muss das sein? Sicher nicht. Schaut man auf die Forderungen der Fahrer, ist vieles dabei, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, und was das Unternehmen wohl nicht gleich in den Ruin treiben dürfte: dass Schichten mit mehr Rücksicht auf die Fahrer vergeben werden, dass sie zur Entlastung einen Korb an ihr Rad bekommen oder Regenkleidung erhalten. Das muss man fast zweimal schreiben: Regenkleidung. Aus liberaler Sicht ließe sich da anführen: Ist ein Arbeitgeber so unfähig, dass er seine eigenen Beschäftigten nicht davon abhalten kann, ihm immer wieder die Bude einzurennen, dann hat er auf dem Markt nichts zu suchen.

Die Kunden sollten sich genauer überlegen, wo sie einkaufen

Wenn man dem Fall also noch etwas Positives abgewinnen will, dann vielleicht das: Es ist nicht möglich, ein Unternehmen gegen seine Beschäftigten zu führen. Wenn Arbeitsverhältnisse als dermaßen ungerecht empfunden werden, ist für viele offensichtlich unerheblich, ob ein Streik nun rechtswidrig ist oder nicht.

Und die Digitalisierung hilft den Fahrern. Protestaktionen lassen sich über Social Media leicht organisieren, und die Echokammern bewirken, dass sie einen gewissen Lärmpegel erreichen. Längst haben sich auch unabhängige Kooperative von Kurieren gebildet, die dank frei zugänglicher Software im Netz ihre eigene digitale Infrastruktur aufsetzen konnten und nicht mehr auf einen Arbeitgeber angewiesen sind, der sich darum kümmert. Das ist Selbstermächtigung durch Digitalisierung im besten Sinne.

Und die verwöhnten Kunden? Jeder kann sich fragen, ob er oder sie dieses Geschäftsmodell oder lieber den Kiosk um die Ecke unterstützen will. Die Verantwortung des Einzelnen darf für die Politik aber kein Grund sein, sich zurückzunehmen. Wäre doch ein schönes Projekt für eine neue Regierung, nach den Paketboten auch den Fahrradkurieren zu besseren Arbeitsbedingungen zu verhelfen, Zeit wär's.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: