Margrethe Vestager:"Der Europäische Green Deal wird alles beeinflussen, was wir tun"

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EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager bei der Eröffnung eines EU-Besucherzentrums in Kopenhagen. (Foto: AFP)
  • Margrethe Vestager ist in der EU-Kommission für weitere fünf Jahre für Wettbewerbsfragen zuständig - und soll zudem "Europa fit für das digitale Zeitalter" machen.
  • Sie glaubt, dass ihre zweite Amtszeit "sehr verschieden" sein werde - und lobt Ursula von der Leyen für Diversität und Handy-Bann.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Es war eine außergewöhnliche Entscheidung, fast alles beim Alten zu lassen. Normalerweise wechseln EU-Kommissare in einer zweiten Amtszeit das Ressort, doch Margrethe Vestager ist keine normale Kommissarin. Fünf Jahre war sie für Wettbewerbsfragen zuständig. Dieses Portfolio hat ihr Ursula von der Leyen nun erneut anvertraut - und den Auftrag erteilt, als Exekutiv-Vizepräsidentin "Europa fit für das digitale Zeitalter" zu machen. Als eine der Spitzenkandidaten der Liberalen wollte Vestager selbst Nachfolgerin von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker werden. Doch die Dänin wirkt voller Tatendrang und mit sich im Reinen, als sie zum Jahresende in ihrem Büro im 12. Stock des Berlaymont-Gebäudes empfängt.

Ihre zweite Runde als Kämpferin für die Interessen europäischer Verbraucher werde "sehr verschieden" sein, sagt die 51-Jährige der Süddeutschen Zeitung. Dies liege nicht nur an der "unglaublichen Geschwindigkeit", mit der sich Dinge verändern, sondern auch an von der Leyen. Vestager lobt die Entscheidung, Mobiltelefone aus den wöchentlichen Sitzungen des Kollegiums zu verbannen: "Alle müssen die in einen kleinen Schrank sperren." Plötzlich könne kein Kommissar kurz per E-Mail Aufträge erteilen, wenn ein Thema diskutiert werde, das den eigenen Bereich nicht betreffe. Sie habe das mitunter auch gemacht, gibt Vestager unumwunden zu, denn es sei "so schwer", sich nicht ablenken zu lassen: "Nun hört man sich gegenseitig zu."

Sie begrüßt es, dass die neue EU-Kommission anders aussehe: "Unter Juncker sah ich eigentlich nur Männer am Tisch." Unter von der Leyen, der ersten Frau an der Spitze der EU-Behörde mit 32 000 Mitarbeitern, herrsche eine andere Atmosphäre mit "weniger Gleichförmigkeit" und "weniger dunklen Anzügen". Dies richte sich nicht gegen Männer, betont Vestager, aber früher seien viele Fragen nicht gestellt worden, weil alle annahmen, dass es Konsens gebe. Dieses Denken müsse aufgebrochen werden. Das neue Kollegium sei mit 12 Frauen und 15 Männern vielfältiger, was hoffentlich zu besseren Entscheidungen führe: "Wir stellen Fragen und es kommt raus, dass wir gar nicht alle gleich denken, auch nicht alle in dunklen Anzügen."

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Vestager hält Umdenken für nötig, um Wirtschaft, Gesellschaft und Alltag der Bürger so umzubauen, dass das Ziel der Klimaneutralität 2050 erreicht wird: "Der Europäische Green Deal wird alles beeinflussen, was wir tun." Ihre erste Aufgabe besteht darin, bis März eine Strategie für den Umgang mit künstlicher Intelligenz (KI) vorzulegen. Diese soll den Menschen ihr Misstrauen nehmen: Die vielen Horrorstories führten dazu, dass vergessen werde, wo KI bereits eingesetzt werde und das Leben verbessern könne. Mit dem Satz "Manche sagen, China hat alle Daten und die USA haben das ganze Geld", will Vestager demonstrieren, was unverhandelbar sei: Europa werde seine Werte schützen und die Kommission dafür sorgen, dass KI-Anwendungen, etwa zur Vergabe von Jobs, nicht diskriminieren.

Auch die Dänin rechnet damit, dass der Brexit kommt und kündigt an, eng mit EU-Chefunterhändler Michel Barnier zu kooperieren. Dessen Verhandlungsmandat werde gerade geschrieben, und sie werde darauf achten, dass das level playing field gewahrt und der Wettbewerb nicht beeinträchtigt werde. Auf die Frage, ob es machbar sei, in elf Monaten einen Freihandelsvertrag zu vereinbaren, sagt sie: "Es wäre das schnellste Abkommen, das je ausgehandelt wurde." Vieles hänge vom Ansatz an, den Premier Boris Johnson wähle: "Es wird sehr, sehr intensiv werden."

Zu aktuellen Fällen äußert sich die Kommissarin selten, aber zum 400-Millionen-Euro-Kredit der italienischen Regierung für die kriselnde Fluglinie Alitalia sagt sie: "Wir haben schon die ersten Beschwerden erhalten und Fragen zur Gleichbehandlung." Als "sehr interessant" bezeichnet Vestager die Debatte über den Euro-Stabilitätspakt, die etwa Währungskommissar Paolo Gentiloni in der SZ angestoßen hat. Eine Vereinfachung hält sie für wünschenswert, doch es müsse definiert werden, für welche Investitionen - etwa in Umweltschutz - mögliche Ausnahmen gelten sollten: "Sonst gibt es gar keine Regeln." Allerdings müsse man zur Kenntnis nehmen, dass sich die Welt verändert habe.

Dies betrifft vor allem den Aufstieg Chinas. Die Niederlande fordern, dass die EU zusätzliche Kompetenzen erhalten solle, um "unfaire Bedrohungen" durch Firmen aus Staaten wie China abzuwehren, die von Staatsbeihilfen profitieren - und Vestager nennt die Idee "inspirierend". Man müsse prüfen, wie man vorgehe, wenn bei Übernahmen ein überaus hoher Preis geboten werde und wie man festlege, wann ein Angebot nicht mehr marktüblich sei. Vestager hatte kürzlich angekündigt, die Definition von Märkten überdenken zu wollen, um etwa darauf zu reagieren, dass immer häufiger nicht mehr mit Geld bezahlt werden, sondern mit Daten. Allerdings werde dies nichts an ihrer Haltung zur Fusion der Zugsparten von Alstom und Siemens ändern, die sie untersagt hatte. "Nach einer Fusion hätten die Kunden keine Option gehabt, anderswo Züge in gleicher Qualität und mit gleichem Sicherheitsniveau zu erwerben." Vestagers Veto hatte eine Debatte ausgelöst, ob die Bildung "europäischer Champions" im Gegensatz zu ihrer skeptischen Haltung erleichtert werden soll.

Die Sorge, ihr Ressort sei zu groß, teilt Vestager ausdrücklich nicht. Und auch ein anderer Auftrag der neuen Kommissionschefin bereitet ihr kein Kopfzerbrechen: Die Exekutiv-Vizepräsidenten, also neben Vestager der Sozialdemokrat Frans Timmermans und der Christdemokrat Valdis Dombrovskis, sollen als Vermittler zu ihren Parteien agieren. Dass im EU-Parlament für Mehrheiten mindestens drei Fraktionen nötig sind, sieht sie gelassen: "In Dänemark haben wir seit Jahren Minderheitsregierungen."

© SZ vom 19.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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