Es geht um viel, und deshalb hatten die Kommissare auch viel zu besprechen. Bis in die letzten Minuten diskutierten sie an der Spitze der Europäischen Kommission über ein Vorhaben, das Europa an die Spitze der grünen Revolution katapultieren soll. Einmal hatten sie den Beschluss vertagt, am Donnerstag verständigten sich die Beamten, und jetzt steht es: das sogenannte Netto-Null-Industrie-Gesetz, das gleichzeitig die Wettbewerbsfähigkeit der EU-Staaten sichern, Europa weniger abhängig von Importen machen und die europäische Energiewende beschleunigen soll. Denn um die Klimaziele zu erreichen, braucht es ungezählte Windräder und Solaranlagen, Wärmepumpen, Wasserstoff-Anlagen und Batterien für Elektroautos, die möglichst in Europa entstehen sollen.
Um all das geht es in dem Gesetz. Es ist der wichtigste Baustein in einer eilig zusammengeschnürten Reaktion Europas im Subventionswettlauf mit den USA und China. Während die Volksrepublik seit Jahr und Tag planwirtschaftlich agiert, hat zuletzt die US-Regierung mit dem Inflation Reduction Act (IRA) eine industriepolitische Antwort der EU provoziert. In einer Reihe entsprechender Gesetzesvorhaben, etwa zur Lockerung von Staatshilfe-Regeln und zur heimischen Förderung kritischer Rohstoffe, sticht der Netto-Null-Plan besonders hervor.
Die EU probt damit eine Abkehr von jahrzehntelang unverrückbaren Grundsätzen in der Wirtschaftspolitik der Staatengemeinschaft: Wettbewerb sicherstellen, Subventionen begrenzen, Freihandel fördern. Es ist ein Paradigmenwechsel. Willkommen in der neuen Welt der Planwirtschaft.
"Führungsrolle bei der Revolution der sauberen Technologien"
Einen so umfassenden Plan zum Umbau der Wirtschaft und zur Stärkung der heimischen Industrie hat sich die EU noch nie vorgenommen. Kern des Vorhabens ist die Idee, in großem Umfang Investitionen in Zukunftstechnologien zu fördern. Dazu gehören etwa Windräder und Solarmodule, Batterien für Elektroautos und Wärmepumpen für effiziente Heizsysteme. Einhergehend mit Maßnahmen zur Aus- und Weiterbildung wegen des Fachkräftemangels, schnelleren Genehmigungsverfahren und Investitionsanreizen schreibt das neue Gesetz Ziele für die heimische Produktion der gelisteten grünen Technologien vor. Bis 2030 soll Europa in der Lage sein, 40 Prozent davon innerhalb der Union zu fertigen. Die Mitgliedstaaten sollen außerdem schneller Staatshilfen für entsprechende Projekte verteilen dürfen, mithilfe von Steuererleichterungen und Mitteln aus bestehenden EU-Töpfen.
Europa sei entschlossen, "bei der Revolution der sauberen Technologien eine Führungsrolle zu übernehmen", so hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Anfang Februar ihren Anspruch formuliert, als sie ihren Industrieplan für den "Green Deal" vorstellte. Der grüne Umbau der europäischen Volkswirtschaft beherrscht seit ihrem Amtsantritt die politische Agenda der Kommission. Vor drei Jahren hatte von der Leyen das umfassende Klimaschutzprogramm der Union erstmals vorgestellt, wobei zahlreiche Reformvorhaben noch bis zur Europawahl im kommenden Jahr fertig verhandelt werden sollen.
Im Wettstreit mit den Subventionsplänen Chinas und der USA ist die EU nun zusätzlich unter Zugzwang geraten. Die Folge sind kurzfristig verfasste Gesetze, deren Tragweite in keinem guten Verhältnis zu ihrer Vorbereitung steht - was auch innerhalb der Behörde viele kritisch sehen.
Ein Gesetz mit protektionistischen Zügen
Zwar wehrt sich von der Leyen gegen den Vorwurf, sie betreibe Protektionismus, versuche also, Europas Volkswirtschaft vom Rest der Welt abzuschirmen. Allerdings gehört das offensichtlich zum Plan. Schon im Vorwort zum Netto-Null-Industrie-Gesetz schreibt die Kommission von "Überlegungen zur Versorgungssicherheit" und "strategischer Autonomie". Von geostrategischen Interessen ist die Rede und von einem "weltweiten technologischen Wettlauf". Die Sicherheit der Energiesysteme könne nur gewährleistet werden, wenn die Union ihren Zugang zu diesen Zukunftstechniken sichert. Wenn sie also nicht mehr, so wie momentan, einen Großteil der Solarmodule, Windturbinen und Wärmepumpen oder zumindest Bauteile dafür importieren müsse. Fast 90 Prozent der im vergangenen Jahr nach Deutschland importieren Photovoltaikmodule kamen aus China.
Zusätzlich zum Subventions-Konter ist das die zweite geoökonomische Komponente des Industrieplans: dramatische Lieferengpässe während der Corona-Krise und der durch Russlands Krieg gegen die Ukraine befeuerte Energiepreisschock haben die Mitgliedstaaten in dem Ziel vereint, weniger abhängig von Importen zu werden, insbesondere eben bei Schlüsseltechnologien für den grünen Wandel. Experten der Berliner Denkfabrik Centre for European Reform können den Plänen deshalb einiges abgewinnen. Ihnen zufolge sendet Europa mit den Plänen "ein wichtiges politisches Signal, dass die EU sich nicht kampflos deindustrialisieren wird und dass die Dekarbonisierung eine Chance für eine grüne Industrialisierung ist."
In diesem Kontext steht auch das Kritische-Rohstoffe-Gesetz, das Kommissions-Vizepräsident Valdis Dombrovskis und Binnenmarkt-Kommissar Thierry Breton am Donnerstag vorstellten. Es sieht vor, dass bis Ende des Jahrzehnts zehn Prozent der 30 als kritisch eingestuften Rohstoffe innerhalb der EU abgebaut werden, ihre Weiterverarbeitung zu 40 Prozent innerhalb der Union stattfindet und das Recycling gestärkt wird. Auf der Liste stehen etwa seltene Erden, Lithium und Kobalt, aber auch Naturkautschuk, Magnesium oder Kokskohle.
Die vorgeschlagenen Gesetze haben jetzt den üblichen Weg vor sich. Zuerst legen der Rat der EU und das Europäische Parlament ihre Positionen fest, danach verhandeln Kommission, Rat und Europaabgeordnete im sogenannten Trilog. Industriepolitik, Planwirtschaft und ein staatlich gelenkter Anspruch auf eine Führungsrolle bei sauberen Technologien als Basis der Zusammenarbeit auf europäischer Ebene? Was bis vor wenigen Jahren noch kaum vorstellbar schien, ist auf einmal Realität.