In einem waldgrünen Kleinbus mit polnischem Kennzeichen schläft Tomasz Mazur auf der Beifahrerbank. Er liegt auf der Seite, mit dem Kopf drückt er zwei Kissen an das Fenster. Auf dem Armaturenbrett liegt ein Tablet, damit schaut er abends fern. Auf einem Gaskocher bereitet er Essen zu. Das hier ist sein Leben und zugleich sein Arbeitsplatz. Drei Wochen von jedem Monat verbringt er hier. Draußen leuchten die Lampen eines Berliner Möbelhauses, auf dessen Parkplatz er steht. Und die der Deutschen Post AG - in deren Auftrag er arbeitet.
Mazur sorgt dafür, dass Briefe aus Berlin innerhalb eines Tages ihren Empfänger in einem anderen Teil Deutschlands erreichen. Er verdient damit umgerechnet 850 Euro im Monat. Das ist nicht einmal die Hälfte von dem, was ein angestellter Post-Fahrer verdient. Außerdem ist es weniger als der gesetzliche Mindestlohn.
Etwa die Hälfte aller Fahrer, die für die Deutsche Post Briefe und Pakete befördern, das schätzt die Gewerkschaft Verdi, seien keine direkten Angestellten des Konzerns. Rund 3000 von ihnen arbeiteten demnach für "Servicepartner", wie sie die Post nennt. Für unterschiedliche Spediteure mit Sitz in ganz Deutschland und Osteuropa. Tomasz Mazur ist einer von ihnen, er ist hinter der polnischen Grenze zu Hause, sein Chef ist Pole. Auch der Tscheche Jiri Novák, der bis vor Kurzem noch Briefe mit einem Lastwagen von Frankfurt und Salzburg fuhr, arbeitet für einen Servicepartner der Post. Novák bekommt einen Grundlohn von rund 550 Euro im Monat. Die Namen beider Fahrer sind Pseudonyme.
Bislang weist die Deutsche Post die Verantwortung für solche Niedriglöhne von sich. Sie überlässt es offenbar den ausländischen Subunternehmen, ihre Fahrer ordentlich zu bezahlen. Man verpflichte die Firmen "bereits bei der Ausschreibung zur Einhaltung aller gesetzlichen Regelungen, wie der geltenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie explizit auch der Beachtung des Mindestlohngesetzes", sagt eine Post-Sprecherin auf Anfrage: "Dies lassen wir uns bei Vertragsabschluss durch den jeweiligen Auftragnehmer schriftlich bestätigen." Damit sieht sich der Konzern rechtlich auf der sicheren Seite. Der Fahrer Jiri Novák allerdings verklagt nicht seine tschechische Firma. Vor dem Arbeitsgericht Bonn wendet er sich jetzt gegen die Deutsche Post AG. Novák will den Konzern verpflichten, ihm die Differenz zum deutschen Mindestlohn nachträglich auszuzahlen. Für seine Arbeit auf deutschen Straßen zwischen Oktober 2015 und August 2016 seien das genau 8302,50 Euro, heißt es in der Klageschrift, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Von der Post heißt es auf Anfrage, zu laufenden Gerichtsverfahren mache sie "keine Angaben".
Löhne unter 600 Euro im Monat
Für die Aktiengesellschaft, die sich für dieses Jahr einen operativen Gewinn von 3,75 Milliarden Euro verspricht, ist der Betrag, den Jiri Novák fordert, verschwindend gering. Sollte er vor Gericht erfolgreich sein, könnte dies aber zu einem Präzedenzfall für viele ausländische Fahrer im Auftrag deutscher Unternehmen werden. Denn nicht nur die Post, sondern auch viele andere Briefdienste und Speditionen beschäftigen Hunderte ausländische Fremdfirmen zu Tiefstpreisen. Die Löhne der Fahrer aus Osteuropa bewegten sich meist zwischen 400 und 600 Euro im Monat, sagt die Stuttgarter Beraterin Stanislava Rupp-Bulling vom Deutschen Gewerkschaftsbund. Polnische Firmen zahlten etwas mehr, bulgarische etwas weniger. An den deutschen Mindestlohn hielten sich die wenigsten.
Die Verdi-Anwälte, die Jiri Novák gegen die Deutsche Post vertreten, berufen sich nun auf eine Regelung im Mindestlohngesetz, nach der Unternehmen in die Pflicht genommen werden können, den Angestellten ihrer Subunternehmen den nicht gezahlten Lohn zu ersetzen. Durchgesetzt hat so etwas bislang noch kein ausländischer Fahrer in Deutschland.
Konzernen nützt das Lohngefälle
Der abgelegene Möbelhaus-Parkplatz in Berlin, auf dem Tomasz Mazur seinen Kleinbus abstellt, ist eine Art Umschlagplatz für Subunternehmen. Knapp zwanzig Transporter und Lkws parken hier in der Dämmerung, viele haben gelbe Zettel hinter die Windschutzscheibe gelegt: "Servicepartner der Deutschen Post". Das Betriebsgelände des Briefzentrums dürfen sie nur dann nutzen, wenn sie ihre Busse beladen. Für die Wartezeiten müssen sie andere Orte finden.
Ein Mann hat die Hecktüren seines Sprinters geöffnet und verteilt gelbe Plastikboxen voller Papier auf dem Asphalt. Er arbeitet für einen Briefservice, der Postsendungen direkt bei Berliner Unternehmen abholt. Bevor ein Kollege die Briefe zum Zentrum fährt, sortiert er sie hier, hinter dem Möbelhaus.
Neben Tomasz Mazur parkt ein Lastwagenfahrer, der wie er aus Polen kommt. Der nutzt diesen Parkplatz, um auf Aufträge zu warten, die mal von der Post kommen und mal von der Spedition Schenker, wie er sagt - einer Tochterfirma der Deutschen Bahn. Mazur klettert aus seinem Bus und zündet eine Zigarette an. Er wippt am Bordstein auf und ab, in Turnschuhen und Wollpulli, und bläst den Rauch dem Briefzentrum entgegen. Es ist kalt geworden. Heute wird er nur eine Stunde in Richtung Westen fahren. Dann ist er an einer Tankstelle mit einem Kollegen verabredet, um dessen Bulli gegen seinen zu tauschen. Mit dem neuen Fahrzeug macht er kehrt und fährt zurück nach Berlin. "Ich weiß, dass ich in Deutschland zu polnischen Bedingungen arbeite", sagt er: "Es ist trotzdem ein guter Job." Die Gehälter in Polen sind oft noch schlechter. Das wissen auch deutsche Unternehmen: "Wir nutzen den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt und setzen im Rahmen der bestehenden rechtlichen Regelungen auch Unternehmer aus benachbarten Ländern ein", erklärt etwa die Deutsche Post. Ihr und anderen Konzernen nützt dieses Lohngefälle.